Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
einen Zweig auf, auf den er in schneller Folge fünf Schüsse abgab. Fünf lotrechte Einschläge, in gleichmäßigem Abstand wie von einer Nähmaschine gesetzt, kerbten das Holz. Der Typ war nicht gerade ein großer Unterhalter, aber Mann, er konnte zielen. Weil ich es kaum aushielt, so untätig herumzusitzen, und da ich wusste, dass mein Abschnitt der Mauer bereits überwacht wurde, beschloss ich, mein Glück mit der Schleuder zu probieren.
Leichter gesagt als getan.
Dov weigerte sich, weil die Kunst des Schleuderschießens dem Stamm der Binyami vorbehalten sei. Nur dessen Männer übten an Schleuder und Bogen. Wieder und wieder brachte er diese Erklärung vor, bis ich mir einen Bogen schnappte und mein Talent als Bogenschützin unter Beweis stellte.
Dann fragte ich ihn nochmals. Widerstrebend erklärte er sich einverstanden.
Ich hatte nicht vor, die Schleuder als Waffe einzusetzen; für mich war es nur eine Möglichkeit, mir die Zeit zu vertreiben und dabei das phantastische windige Wetter zu genießen, während ich gleichzeitig etwas von diesen Menschen lernte. Bei dem Gedanken daran, wie fest David seinen Stein schleudern musste, damit er in Goliaths Kopf stecken blieb, wurde mir ein wenig übel.
Die Schleuder bestand aus einer Ledertasche am Ende zweier langer Bänder. Um zu schießen, musste man den Stein in der Tasche halten, während man die Schleuder über dem Kopf kreisen ließ, bis sie genug Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Dann ließ man eines der Lederbänder los und den Stein in Richtung Ziel fliegen. Dazu musste man die Bewegungen in Sekundenbruchteilen koordinieren; ganz anders als bei Pfeil und Bogen.
Beim ersten Mal rutschte mir der Stein aus der Ledertasche und fiel mir auf den Kopf, der, unnötig zu sagen, schmerzte. Dov verkniff sich ein Schmunzeln, doch ich ahnte, dass ihn das nicht überraschte. Es erforderte einige Übung, die Bänder unter Spannung zu halten, während man die Schleuder schwang. Mir war klar, dass die Zentrifugalkraft den Stein in der Tasche halten würde, wenn man die Schleuder nur schnell genug drehte, doch ich wusste das nur, weil dies dasselbe physikalische Gesetz war, das verhinderte, dass ich bei einem Achterbahnlooping aus meinem Wagen fiel.
Die Sonne wurde heißer und die Brise hatte sich gelegt. Noch mal ließ ich die Schleuder kreisen und kreisen und lauschte dabei ihrem leisen Sirren. »Jetzt!«, rief Dov. Der Stein flog zwanzig Ellen weit durch die Luft und landete irgendwo weiter unten zwischen den Felsen. Dov schickte mich los, ihn zu holen, da glatte, gleichmäßige Flusskiesel selten und damit wertvoll waren. Ich versucht es noch einmal. Und noch einmal. Mit jedem Fehlschlag wuchs meine Entschlossenheit. Ich würde diese Kunst meistern, mir fehlte nur die nötige Übung.
In der Abenddämmerung schmerzte mir der Arm - auch hierfür brauchte man andere Muskeln als zum Dattelnfüllen. Zum Glück waren in dieser Nacht nicht wir an der Reihe, um die Stadt herumzuschleichen, darum backte ich ein wenig Brot, er machte uns eine Art Eintopf, und wir speisten schweigend, den Blick auf die Lichter gerichtet.
Geht es dir gut, Cheftu?, fragte ich mich.
WASET
RaEm hielt die kleine Hand ihrer Gemahlin in ihrer kraftvollen braunen. Meritatons Gesicht war schmerzverzerrt, sie keuchte und jammerte. Es waren Scheinwehen; es mussten Scheinwehen sein, denn es gab keine Möglichkeit unter dem Aton, dass das Mädchen wirklich schwanger war.
Auch wenn RaEm sich dafür verfluchte, dass sie sich diese Last aufgeladen hatte, murmelte sie Meritaton aufmunternd zu und verarbeitete zugleich die neuesten Informationen aus dem Delta.
Die Pest hatte Ägypten heimgesucht, sie reiste immer weiter nilabwärts und raubte die Seelen aus den Leibern, die sich zu lange aufrecht gehalten hatten. Der Nahrungsmangel hatte die Menschen geschwächt, die Herzenskrankheit, weil man ihnen die Götter genommen hatte, hatte ihnen das Mark aus den Knochen gesogen, jetzt kam die Pest und fällte sie.
Schreiend bog Meritaton den Rücken durch. Pharaos ältlicher Leibarzt starrte auf den Fleck zwischen den Beinen des Mädchens, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.
»Gib ihr irgendwas«, befahl RaEm. »Sie hat Schmerzen.« Ich habe keine Ahnung, warum.
»Sie hat den Mohn zurückgewiesen, meine Majestät«, ent-gegnete der Alte, während er ins Dunkel schielte. »Ich kann keinen Kopf sehen.«
»Natürlich nicht!«, fuhr RaEm ihn an, riss sich aber augenblicklich zusammen. »Sie ist noch vor
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