Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
und eine stehlen müssen. Doch würde er sich andernfalls vollkommen schutzlos dort hinauswagen? Und ahnungslos?
Boten die Steine Schutz genug?
ACHETATON
RaEm zupfte an ihrem Morgenschurz und besah sich einen Moment lang versonnen ihre Aufmachung. Sie war Semenchka-re, der trauernde Witwer, der nach Achetaton zurückgekehrt war, um sein geliebtes Weib zu bestatten. Verflucht, warum war Meritatons Ka nur so zerbrechlich gewesen? Wie viele Tage der Trauer um dieses weiche, leicht zu beherrschende kleine Kind würde RaEm noch über sich ergehen lassen müssen? Wenigstens war die Trauerzeit unter Aton kürzer als unter Amun-Re. Bald würden die Staatsgeschäfte wieder aufgenommen.
Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Die Staatsgeschäfte« waren in Achetaton ein weit verbreiteter Kalauer und tatsächlich ein einziger Witz.
In Wahrheit widmete sich Echnaton so gut wie nie den Staatsgeschäften, wie RaEm begriffen hatte. Er interessierte sich nicht für sein Land, nur für seine unpersönliche Gottheit, den Aton. RaEm hatte die Briefe von den Außenposten des Imperiums gelesen. Vierzehn Jahre lang hatte man dort um eine Schutztruppe gefleht. Jetzt war es zu spät; eine neue militärische Kraft machte die Hügel Kanaans unsicher.
Ägypten hatte sein Imperium verspielt. Das Zentrum der Macht lag nicht mehr in den roten und schwarzen Ländern.
Auch wenn RaEm eine Liebe zu Pharao empfand, die sie für keinen anderen empfunden hatte, so bereitete es ihr doch unermessliche Schmerzen, Ägypten sterben zu sehen. Mit anzusehen, wie alles, was Hatschepsut, ihre einzige Freundin, und Hats Vater Amenhotep errungen hatten, in Echnatons Fingern zerrann wie Nilwasser, bereitete ihr fast unerträgliche Qualen. Das Amt, um das RaEm gekämpft und für das sie gemordet hatte, würde bald nicht mehr existieren.
Echnaton ignorierte alles, was außerhalb dieser Stadt vorging; für ihn bestand Ägypten einzig und allein aus Achetaton. Er hatte verkündet, dass es nicht mehr nötig sei, sich außerhalb der Xenotaphe zu begeben, die er rund um die Stadt hatte errichten lassen. Tiye tat in Waset ihr Möglichstes, damit die Adligen weiter zu Pharao hielten, doch es war besser, dass er in Achetaton blieb. In Wahrheit war er nirgendwo sonst gern gesehen.
Außerhalb dieser Enklave hatte Ägypten seinen König verstoßen. Das einfache Volk wurde von Pocken heimgesucht, einer Seuche, welche die Menschen zu hunderten dahinraffte. Die Überschwemmungen waren dürftig ausgefallen; an allen Grenzen wurde gegen marodierende Sandwanderer gekämpft. Ägypten lag im Sterben. In den Augen der Ägypter war das die
Schuld des Pharao; er trug die Verantwortung. Er hatte sich von den Göttern abgewandt.
Es war eine bittere Erkenntnis, dass RaEm trotz all ihrer Ränke nun, wo sie am Ziel war, wo sie Krummstab und Geißel in der Hand hielt, nichts erreicht hatte, weil Ägypten nichts mehr wert war. Mochten die Götter Meritaton verfluchen; sie war gestorben und hatte ihr dadurch diesen Weg zum Thron versperrt. Auch wenn Semenchkare immer noch lediglich KoRegent war, stand er ebenfalls unter Verdacht, solange das Land so viel durchmachte.
RaEm setzte die Krone ab. Sie war wunderschön, aber auch schwer. Sie hinterließ Druckspuren auf ihrer Stirn. Was hätte Hatschepsut an ihrer Stelle getan? Gold und guter Wille halten ein Land in Gang, hatte ihr Pharao oftmals gesagt.
RaEm bellte ein Lachen durch ihre dunkle Kammer - Ägypten hatte beides nicht.
Die Hitze schlug gegen die Mauern. Es war die Zeit des Keimens, doch es war bereits viel zu heiß. Sie hatten zu wenig Wasser, und der Aton war zu mächtig. Der Emmer würde auf den Feldern verdorren, genau wie alles andere auch. Sie stützte den Kopf in die Hände, sodass der Flaum ihres rasierten Kopfes in ihren Handflächen kitzelte.
Amun-Re, haben wir dich beleidigt?, betete sie. Muttergöttin Hathor, bist du wütend auf uns? Sie wagte diese Worte nicht einmal zu flüstern, denn Echnaton würde sich abrupt von ihr abwenden. Ohne die Verzückung, die er ihr durch seine Stimme und seinen Leib verschaffte, würde sie sterben. Auch wenn seine Hitze sie bis zu den Wurzeln versengte, so hatte sie das Leben noch nie so geliebt und sich noch nie derart nach dem verzehrt, was sie nicht haben konnte. Sie sehnte sich nach jenem Teil von ihm, der allein dem Aton gehörte.
Dem Aton, einem düsteren Gott, der sich weder um die Landwirtschaft noch den Zustand des Landes scherte; wer war dieser
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