Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
lehnten sich die Giborim zurück, um das Geschehen zu verfolgen. Immerhin konnte das genauso unterhaltsam werden wie eine Geschichte.
Einer der jüngeren Giborim nahm die Rolle und wickelte sie auf. Die anderen Soldaten zogen ihn deshalb auf, denn fast keiner von ihnen konnte lesen. Der junge Soldat starrte angestrengt auf das Papier, ohne auf die Frotzeleien seiner Kameraden einzugehen. Schließlich rollte er die Botschaft wieder zusammen und überbrachte sie Dadua.
Der blickte auf die Schriftzeichen, ohne dass sein Rosetti-perfektes Gesicht irgendeine Regung erkennen ließ. »Mein Schreiber wird das vorlesen«, erklärte er gelassen. Er sah auf. »Chavsha, bist du hier?«
Unsere Blicke begegneten sich, und Cheftu erhob sich, um vor den König zu treten. Er war wie ein Mann aus den Stämmen gekleidet, er ließ sich sogar einen Bart wachsen, doch er bewegte sich immer noch mit der katzenhaften Eleganz, die den Ägyptern eigen zu sein schien.
»Dein Wille geschehe«, sagte Cheftu mit einer Verbeugung, bei der er einen Arm über die Brust legte, so als würde er Pharao einen Dienst erweisen. Dadua zuckte nicht mal mit der Wimper. Er reichte Cheftu die Schriftrolle, als hätten sie das schon tausendmal getan. Ich war hin- und hergerissen: Einerseits hätte ich am liebsten hysterisch gelacht, andererseits wäre mir beinahe der Lehmbecher aus der Hand gefallen. Wem machte Dadua hier etwas vor? Ich blickte wieder auf den Boten.
Er war groß und stand vom Alter ungebeugt, aufrecht und mit durchgestreckten Schultern da. Gekleidet war er in eine dezent gefärbte und gemusterte Tunika. Er stand zur Hälfte im Schatten, sodass kaum Details zu erkennen waren. Doch er besaß unleugbar Ausstrahlung.
»An Dadua, den Herrscher in der Höhe: Sei gegrüßt, mein Bruder, von Hiram, Zakar Ba’al von Tsor, deinem erhabenen Ebenbürtigen«, las Cheftu vor.
»Für wen hält sich dieser Hiram eigentlich, dass er sich anmaßt, ein Sohn Avrahams sein zu wollen, indem er sich erhabener Bruder< nennt?«, kommentierte ein Gibori.
»Er ist nicht beschnitten«, ereiferte sich ein Zweiter.
»Das ist poetisch gemeint«, erklärte Abishi. »Er weiß, dass sie keine Brüder sind. Er sagt das nur, damit seine Bitten gefälliger klingen.«
Ich beobachtete den Boten während dieses Wortwechsels unter den Giborim. Er schien sich darüber zu amüsieren, allerdings war seine Miene kaum zu erkennen. Locken fielen ihm in die Stirn, und das übrige Gesicht wurde von der rechteckigen Umrahmung seines Bartes verdeckt. Dennoch hatte ich ein komisches Gefühl. Vielleicht wegen seiner Nase?
Die Männer beruhigten sich wieder, und Cheftu las weiter. »Da du nun in Abdihebas Behausung wohnst, hast du gewiss bemerkt, dass er kein Mensch war, dem viel an Bequemlichkeit lag.«
»Das braucht uns kein Heide zu erklären!«, rief einer. Cheftu blickte auf, und ich sah sein Gesicht im Profil.
Mit kurzem Haar war er wirklich wunderschön, obwohl seine Schläfenlocken bereits wieder wuchsen.
Ich hörte einen leisen Aufschrei und drehte mich um.
Der Bote war ins Straucheln geraten und sank jetzt, gestützt von einem Gibori , zu Boden. Der Mann war totenbleich geworden, das konnte man selbst bei diesem Licht erkennen. Die Soldaten netzten seine Lippen mit Wein. Er starrte Cheftu mit riesigen Augen an. »Habe ich etwas Falsches gesagt, Adoni?«, fragte Cheftu, als wir Übrigen uns zu ihm umdrehten, um festzustellen, was der Bote an ihm gesehen hatte.
Der Mann schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Bitte«, sagte er gleich darauf, »fahre fort.«
Dadua hatte kein Wort gesprochen. An einem richtigen Königshof hätte er sich wahrscheinlich nicht dazu herabgelassen, mit diesem Mann zu sprechen. Doch jetzt schwieg er wohl eher, weil er misstrauisch war. So weit ich das aus meiner geistigen Landkarte memorierte, entwickelte sich Tsor in ökonomischer wie auch sozialer Hinsicht allmählich zu einer Großmacht. Was wollten sie hier? Oder warum kam Zakar Ba’al nicht persönlich?
Es konnte sich um einen Bluff handeln, um in die Stadt zu gelangen und uns genauso zu überlisten, wie wir die Jebusi überlistet hatten. Ich sah zu Zorak hinüber, der das Zwischenspiel vollkommen ignorierte und sehnsüchtig ins Dunkel starrte. Vielleicht war eine solche List nichts Absolutes, sondern von der individuellen Perspektive abhängig?
Cheftu senkte den Blick und las weiter. »Er, also Abdiheba«, schob Cheftu ein, als er weiterlas, »glaubte, dass körperliche Schmerzen
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