Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
vernachlässigt.«
Unerklärlicherweise stiegen mir Tränen in die Augen. »Das hast du nicht -«
Cheftu küsste mich, fest und besitzergreifend. Der Sonne und der Hitze zum Trotz bekam ich am ganzen Leib eine Gänsehaut. Ich wollte diesen Mann gleich wiederhaben. Ich fragte mich kurz, ob der Soldat wohl die gesamte Mauer abmarschierte oder nur dieses Teilstück. »Doch«, flüsterte er gegen meine Lippen. »Ich brauche dich. Ich brauche es, dich zu berühren und dich zu halten und dir zuzuhören. Es ist meine Pflicht, dich zu lieben, für dich zu sorgen, mit dir zusammen zu sein.«
War es ein Wunder, dass ich diesen Mann liebte? Er nahm meinen Mund in Beschlag und sprach zugleich einen Teil meines Herzens an, jene absurde weibliche Schwäche, die sich wünschte, dass mir jemand - natürlich nur ein intelligenter, einfühlsamer, sanfter Mann - einen Knüppel über den Kopf haute und mich in die nächste Höhle schleifte, um mich dort ganz und gar »in Besitz zu nehmen«.
Mein Leib lag dicht an seinem, ich spürte seine Erregung, doch durch sein Reden und seine Küsse bezauberte er mich viel mehr. Wir taumelten in eine schattige Nische, wo er mich festhielt, eine Hand auf meinen Kopf gelegt. »Nein, Chloe«, erklärte er in seinem schweren, abgehackten Englisch. »Nie wieder werde ich dich verlassen.«
Die Zeit der Rebenpflege war über uns gekommen; und zwar über uns alle. Noch nie hatte ich derart intensive Teamarbeit erlebt. Das »Land«, das ständig und überall im Munde geführt wurde, wurde für mich zu einer Einheit. Nicht zu einem Gott, sondern eher zu einem Verwandten, zu jemandem, für den man sorgt, den man nährt und unterstützt. Infolgedessen fand ich mich bis tief in die Nacht im Weinberg wieder, zusammen mit Cheftu und fast allen anderen Stammesangehörigen und Sklaven, wo wir Knospen zurückschnitten, Reben hochbanden und Triebe stutzten.
Nie, nie wieder würde ich gedankenlos einen Schluck Wein trinken.
Das Gute an der Sache war, dass abends sich viele von uns auf einem Dach versammelten, gewöhnlich auf Daduas, wo wir aßen und Geschichten die Runde machten. Der kühle Wind erfrischte uns, das Lachen verjüngte uns, und nach unseren
Eskapaden, bei denen wir dicht am Tod vorbeigeschrammt waren, Psychopathen und Naturkatastrophen überlebt hatten, genossen Cheftu und ich unser neues Leben.
Immer noch war die Wohnungssituation in der Stadt prekär. Täglich zogen Menschen weg oder zu: Jebusi, die aufgegeben hatten und nach einem Ort suchten, an dem man Molekh freundlicher gesonnen war, Männer aus den Stämmen, die mit Kindern, Frauen und Rüstung Einzug hielten. Immer noch gab es in manchen Ecken der Stadt Blutflecken, doch ich zog es vor, meinen Blick abzuwenden.
Eines Nachts, nicht lange nach Cheftus Rückkehr und unserer Freilassung, saßen wir mit Zorak und Waqi, die inzwischen geheiratet hatten, sowie einigen anderen Auserwählten, deren Namen mir immer noch fremd waren, auf Daduas Dach, als Dadua verkündete, dass er ein neues Lied geschrieben habe. »Dieses Lied soll Yohanans, des Bruders meines Nefesh, gedenken, der in der Schlacht gefallen ist.« Es war eine klagende Melodie in noch schwereren Mollklängen als sonst in der Musik der Stämme üblich. Die Melodie der Laute und der gefühlvolle Klang seiner Stimme trugen weit über das stille Dach hinaus. Mir knurrte der Magen - die Frauen hatten noch nicht gegessen -, doch ich konnte nicht weg.
Kein Wunder, dass all dies später einmal einen Teil der Menschheitsgeschichte darstellen sollte. Dadua spielte den letzten Akkord, und wir blieben schweigend sitzen - der letzten Note nachlauschend.
»Welche Schönheit entströmt dem Mund des Königs!«, rief jemand von der Treppe, die aus dem Hof zu uns heraufführte.
Wie ein Mann drehten wir die Köpfe, um nachzusehen, wer da gesprochen hatte.
»Welches Gefühl für seinen gefallenen Bruder! Welches Mitgefühl für die Verlorenen Y’sraels!« Ein alter Mann mit lockigem, geflochtenem Haar und wallendem Bart trat vor. Er war zwar alt, doch immer noch ausgesprochen gut aussehend.
»Wer bist du?«, fragte ein Gibori, der augenblicklich in Angriffsstellung ging, um Dadua notfalls zu verteidigen.
Der Mann nestelte eine Schriftrolle aus seiner Bauchschärpe und reichte sie dem Gibori. »Ich überbringe eine Botschaft von Hiram, dem Herrn über Tsor. Es ist eine Botschaft des Friedens an euren hochgeschätzten Dichterkönig Dadua.«
Er sprach unseren Dialekt. Wie nicht anders zu erwarten,
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