Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
zurückkehren?«
Cheftu zog die Achseln hoch. Es erschien geradezu aberwitzig, dass ein so großer Teil der Geschichte auf diesen elfenbeinhellen Schultern lasten sollte.
»Yoav hat dich ausgesucht.«
»Aber warum? Warum mich?«
»Offenbar weiß er besser über deine militärische Erfahrung Bescheid als ich.«
»Nein, das tut er nicht. Niemand weiß von meiner militärischen Erfahrung.«
»Wirst du mir davon erzählen?« Cheftu hörte selbst, wie hoffnungsvoll er klang. Seit Jahren hatte ihn das interessiert, doch sie hatte so gut wie nie von ihrem Leben in der Moderne erzählt. Tatsächlich wusste er mehr aus RaEms Erzählungen über ihr früheres Leben als von ihr selbst. Wusste sie, wie faszinierend er sie fand?
»Klar, warum nicht?« Sie sprach nach wie vor Englisch, hatte sich also immer noch nicht beruhigt.
»Wie hast du gedient?«, fragte er.
»Ich war Offizier bei der Luftwaffe, der United States Air Force.«
Cheftu schüttelte verwundert den Kopf. »Fliegende Soldaten, mon Dieu, das ist ein Wunder! Erzähl mir alles von Anfang an.«
»Ich kam vorzeitig auf die High-School, weil ich schon in mehreren Schulen eine Klasse übersprungen hatte. Und das bedeutete, dass ich auch vorzeitig auf die Universität kam. Bei meinem Abschluss war ich erst zwanzig. Ich hatte vor, zwischendurch vielleicht fünf oder zehn Jahre als Offizier bei der Luftwaffe zu absolvieren.«
»Weshalb?«
Sie lachte. »In meiner Familie war immer ein Mitglied beim Militär. Im englischen Zweig meiner Familie kämpfen wir schon seit Cromwell. Und der amerikanische Zweig hat mir schon von frühester Kindheit an Geschichten aus dem Krieg zwischen den Staaten erzählt. Mein Vater hat in Vietnam gedient. Es war Tradition, und es war mir wichtig.«
»Aber du bist eine Frau.«
»Das ist dir aufgefallen?«, neckte sie ihn.
Cheftu küsste ihre Hand. »Schon.« Er zwinkerte. »Hat das keine Probleme gegeben?«
»Natürlich, aber das war mir gleich. Je schwieriger es wurde, desto entschlossener war ich. Ich hatte das Gefühl, die Ehre meiner Familie laste auf meinen Schultern.«
»Hat sie dich unterstützt?«
»Du machst wohl Witze. Mein Vater hat vor Wut gekocht, Mimi hat geweint, und meine Mutter hat vor Zorn einen ganzen Rosengarten ausgerissen. Nur meine Geschwister haben mich verstanden und mir den Rücken gestärkt.« Chloe verschränkte ihre Finger mit seinen. »Ich war die Letzte unter uns, die ihre töchterliche Freiheit verkündet hat. Und so ... habe ich die Ausbildung gemacht.«
Sie sah weg, als würde ihr eine ganz andere Welt vor Augen stehen.
»Ich war in Te - in dem Staat, in dem auch meine Großmutter lebte.«
»Mimi?«
»Ihr hätte bestimmt gefallen, wie du ihren Namen aussprichst, mit der Betonung auf dem zweiten mi.« Sie lächelte ihn an. In ihren grünen Augen stand düsterer Schmerz, doch sie rang ihn nieder. »Du bist so französisch.«
Cheftu gab ihr einen weiteren Kuss auf den Handrücken.
»Oui, madame. Und weiter?«
»Kurz vor ihrem Tod und vor meinen Abschlussprüfungen konnte ich sie noch einmal besuchen. Es war an einem Freitagnachmittag; die Blätter färbten sich bereits herbstlich. Ich hatte den Schlüssel zu ihrem Haus. Es war ein riesiger viktorianischer Kasten mit umlaufender Veranda.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mimi saß im dunklen Wohnzimmer und weinte.« Cheftu drückte ihre Hand und gab sich alle Mühe, sie trotz ihres accent américain zu verstehen. »Sie hatte es eben von ihrem Arzt erfahren. Sie hatte Krebs.«
»Mon Dieu«, flüsterte er, und das Herz tat ihm weh. Krebs -jene unerforschliche, unbesiegbare Krankheit, die so viele Menschen völlig grundlos dahinraffte. Und das sollte bis in Chloes Zeit so bleiben? War sie denn ein unausrottbares Übel?
»Na ja, ich war gerade in meinem letzten Semester an der Universität. Ich hatte einen Zeitauftrag bei der Luftwaffe ganz in der Nähe. Mimi machte eine Chemotherapie, sie hat alles versucht, wirklich alles ... Doch nach einem Jahr, als ich im aktiven Dienst war, wurde klar, dass sie nicht länger allein zurechtkam. Mein Vater konnte nicht heimkommen, meine Mom war sporadisch mal da gewesen, aber ...« Sie seufzte. »Also bin ich zu meinem Kommandanten gegangen. Ich habe ihm erklärt, dass Mimi nicht mehr lang zu leben hätte und dass ich bei ihr bleiben wollte. Wir trafen ein Abkommen.«
Lächelnd sah sie auf. »Ich habe nicht oft gefeilscht, ich bin eine miserable Händlerin, aber dafür habe ich mit allem
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