Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
allgemeiner Überzeugung den Feind des Aton. Im flachen Wasser des Nils dümpelten am Ufer vertäute Boote, von denen einige auf den Bootsbauer warteten, andere hingegen bereits repariert waren. Er ließ die Steine aus seiner Schärpe gleiten und warf sie aus.
»Wo ist Chloe?«
»G-E-H.«
»Ist sie hier?«
Er musste die brennenden Augen zusammenkneifen, um die Buchstaben auszumachen.
»G-E-H.«
»Bekomme ich auch mal eine andere Antwort?«, fragte er verärgert.
»G-E-H-L-O-S.«
Er stopfte sie wieder in die Schärpe.
Mit zusammengebissenen Zähnen, weil er um einen Diebstahl nicht herumkam, wählte er das kleinste Boot aus und kletterte hinein.
Nachdem er im Rumpf die Riemen ertastet hatte, stieß er das Boot vom Ufer ab und ruderte wie ein Wilder, um noch vor der Morgendämmerung die Stadt hinter sich zu lassen. Nie würde er an diesen verfluchten Ort zurückkehren, wo man Gebete dazu missbrauchte, die Menschen zu manipulieren. Pharao lag nicht das Geringste an seinem Land.
Doch als die Muskeln in seinen Schultern sich anspannten, seine Augen in der Morgendämmerung tränten und seine Haut in der Morgensonne zu brennen begann, da wurde ihm klar, dass das nicht mehr zählte. Er würde Ägypten verlassen. Chloe wartete auf ihn.
Er ließ den Nachen am Ostufer des Nils zurück, knapp südlich von Khumnu, das im mittleren Königreich Hauptstadt des Hasengaus gewesen war. Die Stadt war praktisch verlassen. Der Thottempel war geschlossen. Selbst hier, so weit nördlich, entdeckte Cheftu die Stele Echnatons, mit der die Grenze Achetatons markiert wurde. Da er nicht wusste, ob ihm Priestersoldaten auf den Fersen waren, marschierte Cheftu in die Wüste hinein, um gleich darauf kehrtzumachen. Für den Preis einer Übernachtung und von drei Tagesverpflegungen griff er auf seine Kenntnisse als Arzt zurück und wirkte als Geburtshelfer. Es war ein Knabe, der nach ihm benannt werden sollte. Wie aus der Pistole geschossen antwortete Cheftu, sein Name sei Nachtmet. Es war ein guter, anständiger Name; er bedeutete »Einer der sehen konnte« und wies keinerlei Verbindung zu ihm auf. Er durfte keine Spuren hinterlassen.
Während die Frauen aus dem Dorf Amulette um die Arme des Säuglings banden, um ihn gegen die vielen bösen Geister der Luft, der Nacht und des Wassers zu beschützen, verließ Cheftu die Stadt.
Der Proviant hielt Cheftu auf den Beinen, während er parallel zum Nil über die Felder in Richtung Norden wanderte. Die Steine schwiegen; seine einzigen Anhaltspunkte waren der Name Dagon und die Pelesti. Er wanderte weiter.
Priestersoldaten segelten flussauf und flussab, sekreierten die Fischer und machten in den Dörfern Halt, um sicherzustellen, dass die Tempel geschlossen blieben und nur der Aton verehrt wurde.
In Akoris hörte er Gerüchte von einem gefährlichen Verbrecher, der aus Achetaton geflohen war. Bestürzt hörte Cheftu seine eigene und noch dazu ziemlich treffende Beschreibung.
In dieser Nacht schlich er im Schutz der Dunkelheit zu jener verfallenen Stufenpyramide, wo angeblich eine weise Frau hauste. Nachdem er ihr den Eingang zu einer Höhle freigeräumt hatte, entlohnte sie ihn mit einem Zaubertrank, der sein Aussehen ändern würde. Dann setzte er seinen Weg nach Norden fort.
In Per Medjet, wo neben dem Aton auch Fische verehrt wurden, vernähte er die Fleischwunde einer Barbierstochter und erhielt dafür Proviant, einen selbst gewebten Schurz und eine Tönungspaste, die ihn einerseits vor weiteren Sonnenbränden schützen würde und zweitens seine Haut dunkler aussehen ließ.
Der Mann, der die Straßen von Noph betrat, hatte nichts mehr mit dem Menschen gemein, der aus den Straßen von Achetaton davongeschlichen war. Die Sonne - und die Tönungspaste - hatten seine Haut geschwärzt, sein Kopf war kahl, das lange Haar abrasiert und irgendwo in der Wüste verbrannt worden. Er trug ein kleines Ziegenbärtchen und einen Schnauzbart. Doch das Entscheidende war die Veränderung in seinen Augen.
Das Belladonna, das ihm die Weise überlassen hatte, schützte seinen Blick nicht nur vor den strafenden Strahlen des Aton, sondern weitete zugleich seine Pupillen so sehr, dass das Bernsteingelb seiner Iris nicht mehr zu erkennen war.
Cheftu erkannte sich selbst nicht mehr, als er zum Tempel ging; er befürchtete nur, dass auch Chloe ihn nicht mehr erkennen würde. War sie hier? Die Steine befahlen immer noch: »G-E-H.« Ein schnelles, aber notwendiges Opfer für den Aton, dann würde er seinen Weg
Weitere Kostenlose Bücher