Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
gesamte Insel; genauer gesagt war die Insel das Kai. Der einzige Bereich, der nicht zum Kai gehörte, war der Palast.
Auf der Insel Tsor gab es keinen Bedarf an Privathäusern. Während der sechs Segelmonate im Jahre waren alle Männer unterwegs, und alle Frauen webten und spannen sechs Monate lang; danach begaben sich alle gemeinsam in das unterste Stockwerk des Palastes, in die Gruben, wo sie sechs Wintermonate lang färbten.
Man sagte, in Tsor sei selbst das Meer blauer.
Auf dem Festland lebten die Einwohner in Höhlen, die sie ins Erdreich gegraben hatten und die von so hoch wachsenden Bäumen überschattet wurden, dass fast kein Sonnenlicht hindurchdrang. Dort waren die Männer Handwerker, sie be-schnitzten das Holz und stellten die geflügelten Löwen her, die Zakar Ba’al, der Herr über Tsor, so liebte.
Sie schnitzten Astartenbäume, Symbole für die Fruchtbarkeit der Göttin. Sie erbauten in aller Welt Tempel. Jeder dieser drei-räumigen Bauten war aus Holz errichtet, das bereits in Tsor zurechtgehauen und dann durch den Shamir - einem wundersamen Zauberinstrument - des Meisters geräuschlos und absolut nahtlos mit dem örtlichen Fels verbunden wurde. Nur wer der geheimen Bruderschaft der Mnasone angehörte, konnte vom Meister die Kunst des Steingießens, Felsformens und Verwandelns erlernen. Die Übrigen waren Zimmerleute, die das Holz behauten und sich nie aufs Meer wagten. In Tsor wollte jeder Mensch sich ganz und gar selbst gehören.
Dieses Ziel strebten alle an. Die Frauen waren wie die Frauen zu allen Zeiten damit beschäftigt, das Haus in Ordnung zu halten und die Kinder großzuziehen; doch diese Frauen waren zugleich Kaufleute. Alle zusammen hatten den Meister angerufen und darum ersucht, dass seine Seeleute in den vielen Palästen und Häfen, die sie ansegelten, Nahrungsmittel eintauschten, und zwar gegen hausgemachte Spezialitäten der Tsori: einen aus Kiefernnadeln hergestellten Trank; die Nüsse aus den Kiefernzapfen; ihre bestickten, gefärbten Stoffe; und Waisenkinder.
Dank dieses Handelns waren die Tsori ein wohlhabendes, sehr wohlhabendes Volk. Zakar Ba’al war nicht der Einzige, der von goldenen Tellern speiste, Wein von jenseits des Meeres trank oder Würfelspiele mit Figuren aus Elfenbein und Jade spielte.
Gedankenversunken betastete der Meister seine Spielfigur und blickte von der Insel aufs Festland hinüber. Die Küste war zerklüftet und wunderschön und das Blau des Meeres konnte sich höchstens mit den Stoffen der Tsori messen. In der Ferne erhoben sich Bäume und Berge, und zwar ohne Feuer und geschmolzene Lava. Gelangweilt wandte Zakar Ba’al den Blick ab.
Zwei Straßen führten in seiner Nähe von den Reichtümern Ägyptens, Kushs und des Dschungels weiter südlich zu den großen Zivilisationen im Norden - nach Mitanni, Hattai und in das hunderttorige Assyrien. Jenseits von Assyrien lag der märchenhafte Osten mit seinen Elefanten, schlitzäugigen Menschen und dem eigenwillig würzigen Essen.
Ein Weg führte über das Meer. Dazu musste man nach Süden über Qisilee, Yaffo, Ashdod, Ashqelon ins ägyptische Delta segeln und dann durch den Hals des Nils nach Noph, Waset, Simbel, Kush hinauf ... oder noch weiter.
Oder er konnte eine Eselkarawane nach Norden ausschicken, auf dem Umweg durch das Aravatal, über die Hügel und dann auf der Straße der Könige bis nach Assyrien.
Beide Wege waren nun versperrt. Bald würde sein Volk zu hungern beginnen, denn die Tsori waren keine Bauern; sie erwarben ihr Essen durch Handel.
Die Tsidoni, diese Hohlköpfe, hatten den tsorischen Schiffen den Krieg erklärt. Es gab keine Möglichkeit, nach Süden zu segeln, ohne Ako, einen tsidonischen Hafen, zu passieren. Da die Tsori kein Kriegervolk waren, besaßen sie keine Armee. Ihre einzige Möglichkeit war der Rückzug.
Dann war auch die Straße der Könige, sein Hintertürchen, verriegelt worden. Durch eine neue Kraft in den Hügeln Kanaans. Einen Monarchen, der nicht gewillt war, seinen Profit schmälern zu lassen.
Sie hatten sich diesem König einfach nicht in der angemessenen Weise genähert, dachte er. Niemand wies Zakar Ba’al ab.
Dann fielen die Jahre von ihm ab, hunderte und aberhunderte Jahre, ein ganzes Jahrtausend. Ein Gesicht hatte sich für alle Zeiten in sein Gedächtnis gegraben. Ein einziges Mal war er abgewiesen worden, noch ehe er den Namen Hiram Zakar Ba’al, Shiva, Thor oder Dionyssos angenommen hatte. Nur einen einzigen Mann hatte er vergebens begehrt, vergebens
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