Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
umworben. Nur ein einziger Mann war ihm, ebenbürtig gewesen. Nur ein einziges Mal hatte er so geliebt, hatte er sein Bestes gegeben und Unsterblichkeit geschenkt, nur um von dem Objekt seiner Leidenschaft verlassen zu werden.
Von dem einen Mann, den er begehrt und nie bekommen hatte.
Cheftu sa’a Khamese. Dem Ägypter.
Als die Sonne endlich vom Himmel verschwand, hätte Cheftu vor Erleichterung am liebsten geweint. Sein Kopf dröhnte, ihm war übel und die Punkte vor seinen Augen machten ihm Angst. Viele Tage würde er das nicht mehr durchhalten. Nicht mehr überleben und sein Augenlicht behalten.
Wie konnte er entkommen? Hatte überhaupt jemand sein Verschwinden bemerkt? Wenaton würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn sein eigener Körper verschwand, von Cheftus ganz zu schweigen.
Der Tempelkomplex wurde bei Sonnenuntergang praktisch geschlossen; dreimal hatte er das bereits beobachten können. Die Priester wünschten einander gute Nacht und verschwanden. Ein abgeschlossener Tempel wäre an einem Hof Amun-Res unvorstellbar gewesen. Doch allmählich glaubte er, dass ihm fast nichts an dem Verhalten der Priester vom Hof Amun-Res her bekannt vorkam. Seit wann waren die Religion und ihre Ausübung nicht mehr Privatsache, sondern ein Gesetz? Was für eine Perversion des Glaubens war das denn?
Seine Augen brannten, sein Magen krampfte sich zusammen, und Cheftu fragte sich, was er wohl unternehmen konnte. Im Augenblick war es stockdunkel, er konnte also nicht einmal die Steine befragen, was die Zukunft für ihn bereithielt. An die abkühlende Wand der Grube gelehnt, schloss er die Augen. Erst einmal würde er sich ausruhen.
»Chavsha?« Ein Flüstern weckte ihn.
Als er die Augen öffnete, schlug die Erinnerung an die vergangenen drei Tage über ihm zusammen. Er kämpfte die Panik in seiner Kehle hinunter und blieb reglos stehen.
»Chavsha?« Es war Wenatons Stimme. »Bist du da?«
»Ja.« Cheftu hörte etwas rascheln, dann knallte ihm ein Seil auf den Kopf.
»Komm schnell rauf. Die Wachen können sich jeden Augenblick zum Dienst melden.«
Auch wenn Hunger und Hitze ihn geschwächt hatten, war der bloße Gedanke an die Freiheit wie Eiswasser für seine Seele. Er sprang am Seil hinauf, zerrte prüfend am Anker und zog sich dann, mit den Füßen an der Wand abgestützt, hoch.
Hände, feste, schwielige Hände, packten ihn unter den Armen und wuchteten ihn über den Rand. Wenaton hatte Helfer. Das Gesicht seines Retters konnte Cheftu nicht sehen. »Ich werde dir ewig dankbar sein«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Du musst sofort fliehen. Man wird nach dir suchen«, sagte Wenaton. »In Ägypten bist du nicht mehr sicher.«
»Kann ich mich nicht irgendwo verstecken?«, fragte Cheftu. Er besaß keine Wertsachen, er konnte keine Flucht finanzieren. Er musste die Steine befragen, er musste sich davon überzeugen, dass Chloe wirklich nicht hier war. Oder war das vielleicht mit dem »Folgen« gemeint?
»Nein, alle werden nach dir suchen. Du hast nicht in die Sonne gesehen, du hast dich von ihr abgewandt.«
Sieh nicht auf den Götzen, hatten die Steine gesagt. Die Sonne war der Götze! »Wo bist du Yamir-dagon begegnet?«, fragte Cheftu. »Das musst du mir noch sagen.«
»Bei den Pelesti. Geh jetzt.«
»Danke«, wiederholte Cheftu noch einmal. »Wenn ich irgendetwas für dich tun kann -«
Die Stimme schnitt ihm das Wort ab. »Das hast du bereits, indem du mich heimgebracht hast.« Wenaton packte ihn an der Schulter. Cheftu zuckte zusammen, als seine verbrannte Haut zusammengedrückt wurde. »Still jetzt! Verschwinde!«
Das Adrenalin spülte Cheftus Kopf frei, und gleich darauf war er mit den Schatten verschmolzen, ängstlich darauf bedacht, die Straße und die Tenewos-Mauern des Tempels im Auge zu behalten. Falls Achetaton wie alle anderen ägyptischen Städte angelegt war, dann verlief die Straße der Adligen mit ihren großen Häusern parallel zum Nilufer. Der Nil war seine Pforte aus der Stadt. Sobald er am anderen Ufer oder auf einem Boot war, würde er die Steine befragen, wie er zu Chloe gelangen konnte. Wem oder was er folgen sollte.
Behutsam stahl er sich von einem schwarzen Schatten ins nächste graue Halbdunkel, denn es war Vollmond. Schließlich stand er mutterseelenallein am Kai. Nirgendwo lungerten bierselige Matrosen herum. Es war verboten, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, denn wer sich im Dunklen aufhielt, umarmte damit nach
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