Frankenstein
wohin ich jetzt fuhr, mußte ich eigene Freunde gewinnen und mein eigener Beschützer sein. Mein Leben war bisher ungewöhnlich häuslich und zurückgezogen verlaufen, und das hatte mir einen unüberwindlichen Widerwillen gegen neue Gesichter eingeflößt. Ich liebte meine Brüder, Elisabeth und Clerval. Das waren »altvertraute Gesichter«, doch für den Umgang mit Fremden hielt ich mich für völlig ungeeignet. Das waren meine Gedanken, als ich die Reise antrat; doch unterwegs stiegen meine Stimmung und meine Hoffnung. Ich wünschte mir glühend, Wissen zu erwerben. Als ich noch daheim war, hatte ich es oft schwer gefunden, meine ganze Jugend lang an einem einzigen Ort eingepfercht zu bleiben, und es hatte mich danach verlangt, in die Welt hinauszuziehen und meinen Platz unter anderen Menschen einzunehmen. Jetzt gingen meine Wünsche in Erfüllung, und es wäre wirklich töricht gewesen, es zu bedauern.
Auf meiner Reise nach Ingolstadt, die lang und anstrengend war, hatte ich genug Muße für diese und andere Gedanken. Endlich erblickten meine Augen den hohen weißen Kirchturm der Stadt. Ich stieg aus und wurde in ein einsames Gemach geführt, wo ich den Abend nach eigenem Belieben verbringen konnte.
Am nächsten Morgen gab ich meine Einführungsbriefe ab und besuchte einige der wichtigsten Professoren. Der Zufall – oder eher der böse Geist, der Engel des Verderbens, der von dem Augenblick an, da ich meine widerstrebenden Schritte von der Schwelle meines Vaters wandte, allmächtigen Einfluß auf mich gewann – führte mich zuerst zu Herrn Krempe, Professor der Naturwissenschaften. Er war ein ungehobelter Mensch, aber tief in die Geheimnisse seiner Wissenschaft eingedrungen. Er stellte mir mehrere Fragen zu meinem Wissensstand in den verschiedenen zur Naturwissenschaft gehörenden Fächern. Ich antwortete gleichgültig und nannte, zum Teil verächtlich, die Namen meiner Alchimisten als die wichtigsten Autoren, die ich studiert hatte. Der Professor riß die Augen auf.
»Haben Sie«, sagte er, »tatsächlich Ihre Zeit damit verbracht, einen solchen Unsinn zu studieren?«
Ich bejahte. »Jede Minute«, fuhr Herr Krempe heftig fort, »jeder Augenblick, den Sie an diese Bücher verschwendet haben, ist ganz und gar verloren. Sie haben Ihr Gedächtnis mit überholten Systemen und nutzlosen Namen belastet. Guter Gott! In welcher Einöde haben Sie denn gelebt, wo niemand so gütig war, Ihnen zu erklären, daß diese Phantasien, die Sie so gierig in sich eingesogen haben, tausend Jahre und ebenso muffig wie alt sind? Ich habe mir in diesem aufgeklärten Zeitalter der Wissenschaft nicht träumen lassen, auf einen Schüler des Albertus Magnus und Paracelsus zu treffen. Verehrtester, Sie müssen Ihr Studium wieder ganz von vorn anfangen.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab und schrieb eine Liste von Büchern auf, die sich mit den Naturwissenschaften befassen und die ich mir beschaffen sollte; dann entließ er mich, nachdem er erwähnt hatte, Anfang der nächsten Woche wolle er eine Vorlesung über die Naturwissenschaft in ihren allgemeinen Beziehungen beginnen, und Herr Waldmann, sein Kollege, werde an jedem zweiten Tag, den er auslasse, Chemie lesen.
Ich ging nach Hause, nicht enttäuscht, denn ich sagte schon, daß ich diese Autoren, die der Professor mißbilligte, schon lange für unnütz gehalten hatte. Doch war ich darum nicht geneigter, diese Studien in irgendeiner Form wieder aufzunehmen. Herr Krempe war ein kleiner gedrungener Mann mit brummiger Stimme und unsympathischem Gesicht. Der Lehrer nahm mich also keineswegs für sein Fach ein. Vielleicht habe ich in ein wenig zu philosophischer und zusammengefaßter Form einen Abriß davon gegeben, zu welchen Schlußfolgerungen ich hinsichtlich dieses Faches in meinen Jugendjahren gelangt war. Als Kind hatte ich mich nicht mit den Ergebnissen zufriedengefunden, die die modernen Lehrer der Naturwissenschaft verhießen. In einer Gedankenverwirrung, die sich nur durch meine extreme Jugend und meinen Mangel an Führung in solchen Dingen erklären läßt, hatte ich die Schritte der Erkenntnis auf dem Pfad der Zeiten in umgekehrter Richtung vollzogen und die Entdeckungen der neueren Forscher gegen die Träume vergessener Alchimisten eingetauscht. Außerdem hegte ich Verachtung für die Anwendungsformen der modernen Naturwissenschaft. Als die Meister der Wissenschaft noch die Unsterblichkeit und die Macht suchten, war das ganz anders. Solche Absichten, wenn auch vergeblich,
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