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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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mein Leib abgezehrt vom Stubendasein. Manchmal erlebte ich hart am Rande der Gewißheit einen Fehlschlag, aber dennoch klammerte ich mich an die Hoffnung, die schon der nächste Tag oder die nächste Stunde Wirklichkeit werden lassen konnte. Ein Geheimnis, das ich allein besaß, war die Hoffnung, der ich mich verschrieben hatte, und der Mond blickte auf meine mitternächtliche Arbeit herab, während ich mit nicht erlahmendem und atemlosem Eifer die Natur bis in ihre verborgensten Winkel verfolgte. Wer kann sich die Schrecken meiner geheimen Arbeit vorstellen, wenn ich in der ungeweihten Stickluft des Grabes hantierte oder das lebende Tier quälte, um den leblosen Lehm zu beseelen? Jetzt bei der Erinnerung beben mir die Glieder, und die Augen werden mir feucht, aber damals trieb mich ein unwiderstehlicher und fast rasender Impuls vorwärts. Ich hatte anscheinend jene Seelenempfindung verloren außer für diese eine Aufgabe. Es war in der Tat nichts als eine vorübergehende Ekstase, die mich mit nur um so schärferer Empfindlichkeit zurückließ, als der unnatürliche Anreiz nicht mehr wirkte und ich zu meinen alten Gewohnheiten zurückgekehrt war. Ich sammelte aus den Leichenkammern Knochen zusammen und störte mit ruchlosen Fingern die fürchterlichen Geheimnisse des menschlichen Körpers auf. In einer einsamen Kammer, oder eher Zelle, auf dem Dachboden des Hauses, von allen anderen Wohnungen durch einen Gang und eine Treppe getrennt, hatte ich die Werkstatt für mein schmutziges Schöpfungswerk untergebracht. Die Augen traten mir aus den Höhlen, wenn sie den Einzelheiten meiner Aufgabe folgten. Der Seziersaal und der Schlachthof lieferten mir viel von meinem Material, und oft wandte sich meine Menschennatur mit Abscheu von meiner Beschäftigung ab, während ich, immer noch von einer stetig wachsenden Begierde vorangetrieben, mein Werk seinem Abschluß nahe brachte.
    Die Sommermonate vergingen, während ich mich so mit Leib und Seele einer einzigen Bestrebung widmete. Es war eine wunderschöne Jahreszeit; nie brachten die Felder eine reichere Ernte ein oder gaben die Reben einen üppigeren Jahrgang her; doch meine Augen waren den Reizen der Natur gegenüber verschlossen. Und dieselbe Gefühlsverfassung, die mich die Landschaft um mich herum übersehen ließ, machte mich auch die Freunde vergessen, die so viele Meilen weit entfernt waren und die ich so lange Zeit nicht gesehen hatte. Ich wußte, daß mein Schweigen sie beunruhigte; und ich erinnerte mich gut an die Worte meines Vaters: »Ich weiß, solange du mit dir zufrieden bist, wirst du in Liebe unserer gedenken und werden wir regelmäßig von dir hören. Du mußt mir verzeihen, wenn ich jede Unterbrechung deiner Korrespondenz als einen Beweis dafür betrachte, daß du deine übrigen Pflichten ebenso vernachlässigst.«
    Ich wußte deshalb genau, was mein Vater empfinden würde. Doch ich konnte meine Gedanken nicht von meiner Beschäftigung losreißen, die, so widerwärtig sie war, doch meine Phantasie unwiderstehlich gepackt hielt. Ich wollte sozusagen alles aufschieben, was mit menschlicher Zuneigung zu tun hatte, bis das große Ziel erreicht wäre, das jede andere Neigung meiner Natur verschlang.
    Damals dachte ich, mein Vater wäre ungerecht, falls er mein Versäumnis dem Laster oder einem schlechten Lebenswandel zuschriebe. Jetzt bin ich aber überzeugt, daß er recht hatte, wenn er mich für nicht völlig frei von Schuld hielt. Ein vollkommener Mensch sollte sich stets ein ruhiges und friedliches Gemüt bewahren und nie zulassen, daß eine Leidenschaft oder ein vorübergehendes Verlangen seine Gelassenheit stört. Ich glaube nicht, daß das Streben nach Wissen eine Ausnahme von dieser Regel bedeutet. Wenn das Studium, dem Sie sich widmen, die Tendenz zeitigt, Ihre Gefühlsbindungen zu schwächen und Ihren Sinn für jene schlichten Freuden zu zerstören, denen sich nie ein unrechtes Element beimischen kann, dann ist dieses Studium sicherlich unerlaubt, das heißt, es ziemt dem menschlichen Geist nicht. Würde diese Regel stets eingehalten, würde kein Mensch zulassen, daß irgendwelche Bestrebungen störend in seine familiären Bindungen eingreifen, dann wäre Griechenland nicht versklavt worden, hätte Caesar sein Land verschont, hätte man Amerika schrittweise entdeckt, und die Reiche von Mexiko und Peru wären nicht untergegangen.
    Doch ich vergesse, daß ich im interessantesten Teil meiner Erzählung moralische Betrachtungen anstelle. Und Ihre Blicke

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