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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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und trauernden Freunde zu trösten und mit ihnen zu fühlen. Doch als ich mich meiner Heimatstadt näherte, fuhr ich langsamer. Ich konnte den Ansturm der Gefühle kaum ertragen, die mir in den Sinn drängten. Ich fuhr durch Gegenden, die mir aus der Jugend vertraut waren, die ich aber seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wie mochte sich in dieser Zeit alles verändert haben! Eine jähe und trostlose Veränderung war eingetreten, doch tausend kleine Umstände mochten allmählich noch mehr Veränderungen bewirkt haben, die nicht weniger tiefgreifend sein könnten, obwohl sie stiller abgelaufen wären. Angst überkam mich. Ich wagte nicht weiterzufahren, denn ich befürchtete tausend namenlose Übel, die mich erbeben ließen, obwohl ich außerstande war, sie näher zu bezeichnen:
Zwei Tage blieb ich in dieser qualvollen Gemütsverfassung in Lausanne. Ich betrachtete den See; das Wasser war still; alles ringsum war ruhig, und die schneebedeckten Berge, »die Paläste der Natur«, waren unverändert. Nach und nach stellte die heitere und erhabene Landschaft meine Ruhe wieder her, und ich setzte meine Reise nach Genf fort.
Die Straße verlief am Ufer des Sees, der schmaler wurde, als ich mich meiner Heimatstadt näherte. Ich sah deutlicher die schwarzen Flanken des Jura und den hellen Gipfel des Mont Blanc. Ich weinte wie ein Kind. »Ihr lieben Berge! Mein wunderschöner See! Wie heißt ihr euren Wanderer willkommen? Eure Gipfel sind klar, Himmel und See sind blau und heiter. Soll mir das Frieden verheißen oder meines Jammers spotten?«
Ich fürchte, mein Freund, daß ich zu weitschweifig werde, indem ich bei diesen einleitenden Umständen verweile, doch das waren vergleichsweise Tage des Glücks, und ich denke gern daran zurück. Mein Vaterland, mein geliebtes Vaterland! Wer außer einem Einheimischen kann schildern, welche Seligkeit mich erfüllte, deine Flüsse, deine Berge und, mehr als alles andere, deinen schönen See wiederzusehen!
    Doch als ich mich meinem Heim näherte, überwältigten mich erneut Kummer und Angst. Auch brach schon die Nacht herein, und als ich die dunklen Berge kaum noch sehen konnte, fühlte ich mich noch bedrückter. Das vage Bild einer Szene unermeßlichen Unheils tauchte vor mir auf, und ich ahnte dunkel voraus, daß es mir bestimmt war, der unglücklichste aller Menschen zu werden. Ach! ich prophezeite richtig und fehlte nur in dem einen einzigen Umstand, daß ich bei allem Unglück, das ich mir ausmalte und befürchtete, nicht den hundertsten Teil der Qual voraussah, die ich noch erleiden sollte.
    Es war ganz dunkel, als ich vor Genf ankam. Die Stadttore waren schon geschlossen, und ich mußte die Nacht in Secheron verbringen, einem Dorf, das eine halbe Meile vor der Stadt liegt. Der Himmel war klar, und weil ich nicht zu schlafen vermochte, beschloß ich die Stelle aufzusuchen, wo mein armer Wilhelm ermordet worden war. Da ich nicht durch die Stadt konnte, mußte ich in einem Boot den See überqueren, um nach Plainpalais zu gelangen. Während dieser kurzen Fahrt sah ich das Wetterleuchten den Gipfel des Mont Blanc in den schönsten Mustern umspielen. Das Gewitter schien sich rasch zu nähern, und nach der Landung stieg ich auf einen flachen Hügel, um zu beobachten, wie es heranzog. Bald war es da. Der Himmel bezog sich, dann spürte ich, wie der Regen langsam mit großen Tropfen einsetzte, doch dann wurde er schnell heftiger.
    Ich verließ meinen Platz und ging weiter, obwohl Dunkelheit und Sturm von Minute zu Minute zunahmen und der Donner mit schrecklichem Getöse über meinem Kopf dahinrollte. Vom Salêve, dem Jura und den Savoyer Alpen hallte das Echo. Grelle Blitze blendeten mich, ließen den See wie eine riesige Feuerfläche aufflammen, dann wirkte einen Moment lang alles pechschwarz, bis das Auge sich von dem vorausgegangenen Blitz erholt hatte. Wie es in der Schweiz oft der Fall ist, tauchte das Gewitter gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Himmels auf. Am schwersten hing es genau im Norden der Stadt, über jenem Teil des Sees, der zwischen der Landzunge von Belrive und dem Dorf Copêt liegt. Ein weiteres Gewitter erhellte mit matten Blitzen den Jura, und ein drittes legte gelegentlich den Mole bloß und verhüllte ihn wieder, den spitzgipfeligen Berg östlich des Sees.
    Während ich das Unwetter beobachtete, so schön und doch so furchtbar, wanderte ich mit hastigem Schritt weiter. Dieser erhabene Krieg am Himmel hob meine Lebensgeister; ich faltete die Hände

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