Frankenstein
einer, die ich so hoch schätzte, entdecken zu müssen.«
»Mein lieber Vater, du irrst dich. Justine ist unschuldig.« »Wenn sie es ist, verhüte Gott, daß sie als schuldig verurteilt werden sollte. Heute wird ihr der Prozeß gemacht, und ich hoffe, ich hoffe aufrichtig, daß sie freigesprochen wird.«
Diese Worte beruhigten mich. Ich war fest davon überzeugt, daß Justine, ja, jedes menschliche Wesen an diesem Mord unschuldig war. Deshalb fürchtete ich nicht, daß man irgendwelche Indizienbeweise vorbringen könnte, die so zwingend wären, sie zu verurteilen. Meine Geschichte war nicht von der Art, die man öffentlich verkünden konnte; das Erstaunliche und Schauerliche ihres Inhalts würde das gemeine Volk als Wahnsinn deuten. Gab es denn wirklich irgend jemanden, abgesehen von mir, dem Schöpfer, der, sofern ihn nicht seine fünf Sinne davon überzeugten, an die Existenz des lebenden Denkmals der Anmaßung und voreiligen Ignoranz glauben würde, das ich auf die Welt losgelassen hatte?
Bald gesellte sich Elisabeth zu uns. Die Zeit hatte sie verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte; sie hatte ihr eine Anmut verliehen, die die Schönheit ihrer Kinderjahre noch überstieg. Es war noch dieselbe Offenheit, dieselbe Lebhaftigkeit, doch sie verbanden sich mit einem Ausdruck, der mehr Feingefühl und Intellekt enthielt. Sie begrüßte mich mit herzlicher Zuneigung. »Deine Ankunft, mein lieber Vetter«, sagte sie, »erfüllt mich mit Hoffnung. Du findest vielleicht einen Weg, meine arme schuldlose Justine zu rechtfertigen. Ach! Wer ist noch sicher, wenn sie des Verbrechens überführt wird? Ich vertraue auf ihre Unschuld so gewiß wie auf meine eigene. Unser Unglück trifft uns doppelt schwer. Nicht nur unseren lieben Herzensschatz haben wir verloren, sondern ein noch schlimmeres Schicksal soll uns dieses arme Mädchen, das ich aufrichtig liebhabe, entreißen. Wenn sie verurteilt wird, kenne ich mein Lebtag keine Freude mehr. Aber das wird sie nicht, ich bin sicher, das wird sie nicht; und dann kann ich wieder froh sein, sogar nach dem schrecklichen Tod meines kleinen Wilhelm.«
»Sie ist unschuldig, meine Elisabeth«, gab ich zurück, »und das wird bewiesen. Fürchte nichts, sondern laß dich durch die Gewißheit ihres Freispruchs aufheitern.«
»Wie gut und großmütig du bist! Alle anderen glauben an ihre Schuld, und das hat mich unglücklich gemacht, denn ich wußte, daß es unmöglich ist. Und als ich alle anderen so grausam voreingenommen erlebte, verlor ich die Hoffnung und war verzweifelt.« Sie weinte.
»Liebste Nichte«, sagte mein Vater, »trockne deine Tränen. Wenn sie, wie du glaubst, unschuldig ist, verlaß dich darauf, daß unsere Gesetze gerecht sind und daß ich tatkräftig den leisesten Schatten der Parteilichkeit verhindern will.«
Achtes Kapitel
Bis elf Uhr, als der Prozeß anfangen sollte, verbrachten wir ein paar traurige Stunden. Da mein Vater und die übrige Familie als Zeugen daran teilzunehmen hatten, begleitete ich sie zum Gericht. Während des ganzen Verfahrens, eines erbärmlichen Hohns auf die Gerechtigkeit, litt ich wahre Foltern. Es sollte entschieden werden, ob die Folge meiner Wißbegier und meines gesetzlosen Unterfangens den Tod zweier Mitmenschen verursachen würde: eines war ein lächelndes kleines Kind voller Unschuld und Freude, die andere sollte auf viel schrecklichere Weise ermordet werden, unter jeder zusätzlichen Schmach, die dem Mord eine entsetzliche Denkwürdigkeit zu verleihen vermochte. Überdies war Justine ein wackeres Mädchen und besaß Eigenschaften, die ihr ein glückliches Leben verhießen. Jetzt sollte alles in einem schändlichen Grab ausgelöscht werden, und ich war der Grund! Tausendmal lieber hätte ich mich des Verbrechens, das man Justine zuschrieb, schuldig bekannt. Doch ich war abwesend, als es geschah, und so hätte man eine solche Eröffnung als Gefasel eines Verrückten betrachtet und sie, die durch mich litt, nicht freigesprochen.
Justine wirkte ruhig. Sie trug Trauerkleidung. Und ihr stets einnehmendes Antlitz gewann durch den Ernst ihrer Gefühle eine erlesene Schönheit. Doch sie schien zuversichtlich in ihrer Unschuld und zitterte nicht, obwohl Tausende sie anstarrten und verdammten; denn alles Wohlwollen, das ihre Schönheit sonst geweckt hätte, wurde durch den Gedanken an die Ungeheuerlichkeit, die sie begangen haben sollte, im Sinn der Zuschauer ausgelöscht. Sie war gelassen, doch war ihre Gelassenheit sichtlich erzwungen; und
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