Frankenstein
auf Wunsch meines Vaters gemalt, und stellte Caroline Beaufort dar, wie sie in qualvoller Verzweiflung am Sarg ihres toten Vaters kniete. Ihre Kleidung war ländlich und ihre Wange bleich, doch strahlte sie eine Würde und Schönheit aus, die kaum das Gefühl des Mitleids gestatteten. Unter diesem Gemälde hing eine Miniatur von Wilhelm, und als ich sie sah, kamen mir die Tränen. Indessen trat Ernst ein: er hatte mich kommen hören und war herbeigeeilt, um mich zu begrüßen. Er äußerte kummervolle Freude, mich zu sehen: »Willkommen, liebster Viktor«, sagte er. »Ach! Ich wünschte, du wärest vor drei Monaten gekommen, da hättest du uns alle fröhlich und glücklich angetroffen. Jetzt kommst du zu uns, um unsere Trauer zu teilen, die nichts lindern kann, aber deine Anwesenheit wird hoffentlich unseren Vater wieder aufleben lassen, der offenbar unter seinem Unglück dahinsiecht. Und dein gutes Zureden wird die arme Elisabeth dazu bringen, mit ihren sinnlosen und quälenden Selbstanklagen aufzuhören. Der arme Wilhelm! Er war unser Liebling und unser ganzer Stolz!«
Die Tränen flossen meinem Bruder ungehemmt aus den Augen, tödliche Qual befiel mich. Vorher hatte ich mir den Jammer in meinem trostlosen Vaterhaus nur vorgestellt; die Wirklichkeit brach als neues und nicht weniger schreckliches Unglück über mich herein. Ich versuchte Ernst zu beruhigen; ich erkundigte mich eingehender nach meinem Vater und nach ihr, die ich Kusine nannte.
»Sie braucht am allermeisten Trost«, sagte Ernst, »sie klagte sich an, den Tod meines Bruders verschuldet zu haben, und das machte sie furchtbar niedergeschlagen. Aber seit der Mörder entdeckt ist…«
»Der Mörder entdeckt! Mein Gott! Wie kann das sein? Wer konnte auch nur versuchen, ihm zu folgen? Es ist unmöglich; genausogut könnte man trachten, den Wind einzuholen, oder einen Gebirgsfluß mit einem Strohhalm aufzuhalten. Ich habe ihn auch gesehen, heute nacht war er noch frei!«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete mein Bruder in verwundertem Ton, »aber für uns macht die Entdeckung, die wir gemacht haben, unser Unglück vollkommen. Zuerst wollte es niemand glauben; und sogar jetzt noch will Elisabeth sich nicht davon überzeugen lassen, trotz aller Beweise. Wirklich, wer hätte es für möglich gehalten, daß Justine Moritz, die so freundlich war und die ganze Familie so lieb hatte, mit einem Mal eines so furchtbaren, so entsetzlichen Verbrechens fähig werden könnte?«
»Justine Moritz! Das arme, arme Mädchen, ist sie die Angeklagte? Aber zu Unrecht. Jeder weiß das. Das glaubt doch sicher niemand, Ernst?«
»Zuerst hat es niemand geglaubt. Aber es stellten sich verschiedene Umstände heraus, die uns nahezu gewaltsam überzeugt haben; und sie hat sich selbst so widersprüchlich verhalten, daß die sachlichen Beweise um so mehr an Gewicht gewonnen haben und somit kaum noch auf Zweifel zu hoffen ist, fürchte ich. Aber heute wird ihr der Prozeß gemacht, dann hörst du ja alles.«
Er erzählte, an dem Morgen, als man den Mord an unserem armen Wühlern entdeckte, sei Justine krank geworden und mehrere Tage ans Bett gefesselt gewesen. In dieser Zeit habe eine der Mägde zufällig die Kleidung durchgesehen, die sie in der Mordnacht getragen hatte, und in einer Tasche das Bildnis meiner Mutter entdeckt, das nach gängiger Meinung den Mörder in Versuchung gebracht hatte. Die Magd habe es sofort einer anderen gezeigt, die, ohne der Familie ein Wort zu sagen, zu einem Polizeirichter gegangen sei. Und auf ihre Aussage hin habe man Justine verhaftet. Als man ihr die Tat vorwarf, habe das arme Mädchen durch ihre extreme Verwirrung den Verdacht in hohem Maße bestätigt.
Das war eine seltsame Geschichte, doch sie vermochte meine Überzeugung nicht zu erschüttern; und ich antwortete ernst: »Ihr irrt euch alle. Ich kenne den Mörder. Justine, die arme gute Justine ist unschuldig.«
In diesem Augenblick kam mein Vater herein. Ich sah den Kummer tief in sein Antlitz eingeprägt, doch er bemühte sich, mich freudig zu begrüßen; und nachdem wir unsere gedrückte Begrüßung ausgetauscht hatten, wollte er ein anderes Thema als das unseres Unglücks anschneiden, hätte Ernst nicht ausgerufen: »Mein Gott, Papa! Viktor sagt, er weiß, wer der Mörder des armen Wilhelm ist.«
»Auch wir wissen es unglücklicherweise«, antwortete mein Vater, »denn ich wäre wirklich lieber für immer ahnungslos geblieben, als so viel Schlechtigkeit und Undankbarkeit bei
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