Frankenstein
Wasser für immer über mir und meinem Elend schließe. Doch ich hielt mich zurück, wenn ich an die tapfer duldende Elisabeth dachte, die ich zärtlich liebte und deren Dasein mit dem meinen verflochten war. Ich dachte auch an meinen Vater und meinen noch lebenden Bruder. Sollte ich sie alle niederträchtig im Stich lassen und sie schutzlos der Bosheit jenes Teufels preisgeben, den ich auf sie losgelassen hatte?
In solchen Augenblicken weinte ich bitterlich und wünschte, der Frieden würde wieder in meinem Gemüt einkehren, nur damit ich ihnen Trost und Glück spenden könne. Doch das war nicht möglich. Die Reue löschte jede Hoffnung aus. Ich war der Urheber nicht wiedergutzumachenden Unheils gewesen. Und ich lebte täglich in der Angst, das Ungeheuer, das ich geschaffen hatte, werde eine neue Ruchlosigkeit begehen. Ich hatte das dumpfe Gefühl, es sei noch nicht alles vorbei, und er werde noch irgendein außerordentliches Verbrechen begehen, das durch seine Ungeheuerlichkeit die Erinnerung an das vergangene beinahe auslöschen solle. Es blieb noch Raum für die Angst, solange irgend etwas geblieben war, das ich liebte. Mein Abscheu vor diesem Unhold läßt sich nicht ausmalen. Wenn ich an ihn dachte, knirschte ich mit den Zähnen, meine Augen liefen rot an, und ich wünschte mir glühend, jenes Leben auszulöschen, das ich so leichtfertig entflammt hatte. Als ich über seine Verbrechen und seine Bosheit nachdachte, sprengten mein Haß und Rachedurst alle Grenzen der Mäßigung. Ich hätte eine Wallfahrt zum höchsten Gipfel der Anden unternommen, hätte ich ihn, dort angelangt, zum Fuß des Berges hinabstürzen können. Ich wünschte mir, ihn wiederzusehen, um das äußerste Ausmaß meines Widerwillens an ihm auszulassen und Wilhelms und Justines Tod zu rächen.
Unser Haus war ein Trauerhaus. Die Schrecken der kürzlichen Ereignisse hatten die Gesundheit meines Vaters stark angegriffen. Elisabeth war traurig und bedrückt. In ihren üblichen Beschäftigungen fand sie keine Befriedigung mehr, jede freudige Regung erschien ihr als Frevel an den Toten. Sie glaubte damals, ewige Trübsal und Tränen seien der angemessene Tribut, den sie der derart vernichteten und zerstörten Unschuld zu zollen habe. Sie war nicht mehr das glückliche Geschöpf, das in früher Jugend mit mir an den Ufern des Sees gewandert war und begeistert von unseren Zukunftsplänen gesprochen hatte. Das erste jener Kümmernisse, die uns gesandt werden, um uns von der Erde zu entwöhnen, hatte sie heimgesucht, und dessen verdüsternder Einfluß löschte ihr liebes Lächeln aus.
»Wenn ich, mein lieber Vetter«, sagte sie, »über den kläglichen Tod von Justine Moritz nachdenke, sehe ich die Welt und den Gang ihrer Dinge nicht mehr wie vorher. Früher sah ich die Schilderungen des Lasters und der Ungerechtigkeiten, die ich in Büchern las oder von anderen hörte, als Erzählungen aus alter Zeit oder üble Phantasiegebilde an. Zumindest waren sie weit entfernt und lagen dem Verstand näher als der Vorstellungskraft. Doch jetzt geht das Unglück uns selbst an, und die Menschen erscheinen mir als Ungeheuer, die nur nach dem Blut des anderen dürsten. Und doch bin ich gewiß ungerecht. Jeder hielt das arme Mädchen für schuldig. Und hätte sie das Verbrechen, für das sie büßte, wirklich begangen, wäre sie sicherlich der ruchloseste aller Menschen. Um weniger Edelsteine willen den Sohn ihrer Wohltäterin und Freundin ermordet zu haben, ein Kind, das; sie von dessen Geburt an gehegt und gepflegt hatte und zu lieben schien, als wäre es ihr eigenes! Ich könnte in keinem Falle dem Tod eines Menschen zustimmen, aber sicher hätte ich einen solchen Menschen für ungeeignet erachtet, in der menschlichen Gesellschaft zu bleiben. Sie war jedoch unschuldig. Ich weiß, ich fühle, daß sie unschuldig war. Du bist derselben Meinung, und das bestärkt mich. Ach! Viktor, wenn die Lüge so sehr der Wahrheit gleichen kann, wer kann sich eines ungefährdeten Glücks sicher sein? Mir ist, als schritte ich am Rand eines Abgrunds dahin, auf den Tausende zudrängen, die mich in die Tiefe zu stürzen suchen. Wilhelm und Justine wurden umgebracht, und der Mörder entkommt; er geht durch die Welt, frei und womöglich geachtet. Doch selbst wenn man mich verurteilen würde, auf dem Schafott für dieselben Verbrechen zu büßen, würde ich mit einem solchen Scheusal nicht tauschen wollen.«
Ich hörte diese Worte mit äußerster Qual an. Ich war der wahre Mörder,
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