Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
Vom Netzwerk:
nicht der Tat, aber deren Auslösung nach. Elisabeth las mir den Schmerz am Gesicht ab, nahm gütig meine Hand und sagte: »Mein liebster Freund, du mußt dich beruhigen. Diese Ereignisse haben mich tief getroffen, nur Gott weiß, wie tief; aber ich bin nicht so unglücklich wie du. Auf deinen Zügen liegt ein Ausdruck der Verzweiflung und manchmal des Rachedurstes, vor dem ich zittere. Lieber Viktor, verbanne diese dunklen Leidenschaften. Erinnere dich der Freunde um dich her, die alle Hoffnung auf dich richten. Haben wir die Macht verloren, dich glücklich zu machen? Ach! Solange wir einander lieben – solange wir einander treu sind, hier in diesem Land des Friedens und der Schönheit, deinem Vaterland, dürfen wir in der Stille manchen Segen ernten – was kann unseren Frieden stören?«
    Und mochten solche Worte aus ihrem Munde, die ich höher als jede andere Gabe des Glücks schätzte und liebte, nicht genügen, um den Teufel auszutreiben, der in meinem Herzen lauerte? Noch während sie sprach, drängte ich mich wie in Todesangst näher an sie heran; als wäre in diesem Augenblick der Mörder in der Nähe gewesen, um sie mir zu rauben.
    So konnte weder die Zärtlichkeit der Freundschaft noch die Schönheit der Erde wie des Himmels meine Seele vom Schmerz erlösen: sogar die Stimme der Liebe war wirkungslos. Mich hüllte eine Wolke ein, die keine wohltuenden Einflüsse zu durchdringen vermochten. Der verwundete Hirsch, der seine ermattenden Glieder in ein unzugängliches Dickicht schleppt, um dort auf den Pfeil zu starren, der ihn durchbohrt hat, und zu sterben – war nur ein Abbild von mir.
    Manchmal konnte ich die trübe Verzweiflung, die mich überwältigte, beherrschen: doch manchmal trieb mich der Gefühlsaufruhr meiner Seele dazu, durch körperliche Ausarbeitung und Ortswechsel ein wenig Erleichterung von meinen unerträglichen Qualen zu suchen. Unter solch einer Anwandlung verließ ich plötzlich mein Heim und lenkte meine Schritte zu den nahen Alpentälern, wo ich in der Großartigkeit, der Ewigkeit solcher Landschaften versuchte, mich und meine kurzlebigen, weil menschlichen Leiden zu vergessen. Meine Wanderung führte mich in Richtung auf das Tal von Chamonix. Als Junge hatte ich es oft besucht. Seither waren sechs Jahre vergangen: ich war ein Wrack – aber an dieser wilden und dauerhaften Landschaft hatte sich nichts verändert.
    Den ersten Teil meiner Reise legte ich zu Pferd zurück. Dann mietete ich ein Maultier, weil es sicherer auf den Füßen ist und auf diesen unebenen Wegen weniger anfällig für Verletzungen. Das Wetter war schön: es war etwa Mitte August, fast zwei Monate nach Justines Tod, jenem unglücklichen Zeitabschnitt, von dem an ich all meinen Gram datierte. Die Last auf meinem Gemüt wurde merklich leichter, als ich noch tiefer in die Schlucht der Arve eindrang. Die gewaltigen Berge und Steilwände, die auf allen Seiten über mir aufragten – das Brausen des Flusses, der zwischen den Felsen schäumte, und das Tosen der Wasserfälle ringsum sprachen von einer Kraft, stark wie die Allmacht – und ich hörte auf, mich zu fürchten oder mich einem weniger allgewaltigen Wesen zu beugen als dem, das die Elemente geschaffen hatte und beherrschte, die sich hier in ihrer schreckenerregendsten Gestalt zeigten. Als ich noch höher stieg, nahm das Tal einen immer großartigeren und erstaunlicheren Charakter an. Burgruinen, die an den Abgründen tannenbestandener Berge hingen, die stürmische Arve und hier und da Bauernhäuser, die zwischen den Bäumen hervorlugten, schufen ein Bild von einzigartiger Schönheit. Doch es steigerte sich ins Erhabene durch die mächtigen Alpen, deren weiße und strahlende Pyramiden und Kuppeln hoch über allem aufragten, als gehörten sie einer anderen Erde an, die Wohnstätte eines anderen Geschlechts.
    Ich überquerte die Brücke von Pélissier, wo sich die Schlucht, die der Fluß geschaffen hat, vor mir auftat, und begann den sie überragenden Berg zu besteigen. Bald darauf kam ich in das Tal von Chamonix. Dieses Tal ist wunderbarer und erhabener, aber nicht so schön und malerisch wie das von Servox, durch das ich gerade gekommen war. Die hohen, schneebedeckten Berge begrenzten es unmittelbar, doch ich sah keine Burgruinen und fruchtbaren Felder mehr. Mächtige Gletscher rückten bis an die Straße heran; ich hörte das polternde Grollen der fallenden Lawine und beobachtete den Rauch, der von ihrer Bahn aufstieg. Der Mont Blanc, der erhabene und

Weitere Kostenlose Bücher