Frankenstein
mein Begriffsvermögen und meine Erfahrung. Ich besaß ein recht verworrenes Wissen von Königreichen, weiten Landstrichen, mächtigen Flüssen und grenzenlosen Meeren. Doch Städte und große Menschenansammlungen waren mir völlig unbekannt. Die Kate meiner Beschützer war die einzige Schule gewesen, in der ich die menschliche Natur studiert hatte; dieses Buch aber entfaltete vor mir neue und mächtigere Schauplätze. Ich las von Männern, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten befaßten und ihre Artgenossen regierten oder hinmetzelten. Ich spürte die heftigste Inbrunst für die Tugend in mir aufsteigen und Abscheu vor dem Laster, soweit ich die Bedeutung dieser Begriffe verstand, bezogen sie sich doch, wie ich sie anwendete, allein auf Freude und Schmerz. Von diesen Gefühlen verleitet, neigte ich natürlich mehr dazu, friedliche Gesetzgeber wie Numa, Solon und Lykurg zu bewundern als etwa Romulus und Theseus. Das patriarchalische Leben meiner Beschützer bewirkte, daß diese Eindrücke in meinem Gemüt festen Fuß faßten. Wäre meine erste Einführung in die Belange der Menschheit durch einen jungen, nach Ruhm und Schlachten lechzenden Soldaten geschehen, hätten mich vielleicht ganz andere Gefühle erfüllt.
Doch das ›Verlorene Paradies‹ erregte andere und viel tiefere Empfindungen. Ich las es, wie die anderen Bände, die mir in die Hände gefallen waren, als eine wahre geschichtliche Schilderung. Es weckte jedes Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht, das das Bild eines allmächtigen, mit seinen Geschöpfen im Streit liegenden Gottes zu erregen imstande war. Oft bezog ich die verschiedenen Situationen, wenn ihre Ähnlichkeit mir auffiel, auf die meine. Wie Adam war ich offenbar durch kein Band an irgendein anderes lebendes Wesen geknüpft: doch seine Lage war in jeder anderen Hinsicht ganz anders als die meine. Er war als vollkommenes Wesen aus den Händen Gottes hervorgegangen, glücklich und von der besonderen Fürsorge seines Schöpfers begünstigt und behütet; er durfte mit Wesen höherer Natur verkehren und von ihnen Wissen erwerben: ich aber war unglücklich, hilflos und allein. Oftmals hielt ich Satan für das passende Sinnbild meines Zustands, denn oft stieg, wie bei ihm, die bittere Galle des Neides in mir auf, wenn ich die Seligkeit meiner Beschützer betrachtete.
Ein weiterer Umstand bestärkte und verfestigte diese Gefühle. Bald nach meinem Einzug in den Stall hatte ich in der Tasche des Rocks, den ich aus deinem Laboratorium mitgenommen hatte, verschiedene Papiere gefunden. Zuerst hatte ich sie nicht weiter betrachtet; doch jetzt, da ich die Buchstaben zu entziffern vermochte, mit denen sie beschrieben waren, begann ich sie fleißig zu studieren. Es war dein Tagebuch der vier Monate, die meiner Erschaffung vorausgingen. In diesen Papieren beschriebst du eingehend jeden Schritt, den du im Verlauf deines Werkes unternahmst; in diese Geschichte mischten sich Berichte über häusliche Angelegenheiten. Sicher erinnerst du dich an diese Papiere. Hier sind sie. Alles ist darin geschildert, was mit meinem verfluchten Ursprung zu tun hat. Sämtliche Einzelheiten jener Reihe abstoßender Umstände, die zu ihm hinführten, sind hier dargelegt; bis ins kleinste wird meine abscheuliche und widerwärtige Erscheinung beschrieben, in Worten, die dein eigenes Grauen wiedergaben und das meine unauslöschlich machten. Mir wurde beim Lesen übel. ›Verhaßter Tag, an dem ich das Leben empfing!‹ rief ich unter Qualen. ›Verfluchter Schöpfer! Warum hast du ein Ungeheuer geschaffen, so gräßlich, daß sogar du dich in Abscheu von mir abwandtest? Gott in seinem Erbarmen schuf den Menschen schön und anziehend, nach seinem eigenen Bilde. Doch meine Gestalt ist ein schmutziges Abbild der deinen, sogar noch gräßlicher eben durch die Ähnlichkeit. Satan hatte seine Gefährten, Teufel, die ihn bewunderten und anfeuerten; ich aber lebe einsam und verabscheut.‹
Das waren die Gedanken meiner einsamen Stunden voll Niedergeschlagenheit. Doch wenn ich die guten Eigenschaften der Häusler bedachte, ihren liebenswürdigen und gütigen Charakter, redete ich mir ein, wenn sie von meiner Bewunderung für ihre Tugenden erführen, würden sie mich bemitleiden und über meine äußerliche Mißgestalt hinwegsehen. Konnten sie jemanden von der Schwelle weisen, wie scheußlich er auch sei, der um ihr Mitgefühl und ihre Freundschaft warb? Ich beschloß schließlich, nicht zu verzweifeln, sondern mich auf jede Weise für
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