Frankenstein
Mann auf seinen eigenen Wunsch allein in der Kate zurück. Als seine Kinder fort waren, nahm er seine Gitarre und spielte mehrere traurige, aber liebliche Melodien, lieblicher und trauriger, als ich es bisher je von ihm gehört hatte. Anfangs strahlte sein Antlitz vor Freude, doch als er weiterspielte, stellten sich Nachdenklichkeit und Gram ein. Schließlich legte er das Instrument beiseite und saß in Gedanken versunken da.
Mir klopfte das Herz. Dies war die Stunde und der Augenblick der Prüfung, die über meine Hoffnungen entscheiden oder meine Befürchtungen verwirklichen würde. Die Dienstboten besuchten einen Jahrmarkt in der Umgebung. In der Kate und um sie herum war alles still, es war eine vortreffliche Gelegenheit. Doch als ich daranging, meinen Plan auszuführen, versagten mir die Glieder, und ich sank zu Boden. Ich stand wieder auf, und alle Willenskraft aufbietend, zu der ich fähig war, entfernte ich die Bretter, die ich vor meinen Stall geschoben hatte, um meine Zuflucht zu verbergen. Die frische Luft belebte mich, und mit erneuter Entschlossenheit ging ich auf die Tür der Kate zu.
Ich klopfte an. ›Wer ist da?‹ sagte der alte Mann. ›Herein.‹ Ich trat ein. ›Verzeihen Sie mein Eindringen‹, sagte ich; ›ich bin ein Reisender, der ein wenig rasten muß. Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie mir erlauben würden, ein paar Minuten am Feuer zu sitzen.‹
›Treten Sie ein‹, sagte De Lacey; ›ich will versuchen, Ihnen, so gut ich kann, zu geben, was Sie brauchen. Aber bedauerlicherweise sind meine Kinder nicht daheim, und da ich blind bin, wird es mir leider schwerfallen, Ihnen etwas zu essen vorzusetzen.‹
›Machen Sie sich keine Mühe, gütiger Gastgeber, ich habe zu essen. Nur Wärme und Rast brauche ich.‹
Ich setzte mich, und es folgte ein langes Schweigen. Ich wußte, daß für mich jede Minute kostbar war, doch ich war immer noch unschlüssig, auf welche Weise ich das Gespräch beginnen sollte. Da richtete der Alte das Wort an mich:
›Nach Ihrer Sprache, Fremder, sind Sie vermutlich mein Landsmann. Sind Sie Franzose?‹
›Nein, aber ich bin bei einer französischen Familie erzogen worden und verstehe nur diese Sprache. Ich will mich jetzt dem Schutz einiger Freunde anvertrauen, die ich aufrichtig liebe und auf deren Gunst ich mir einige Hoffnung mache.‹
›Sind es Deutsche?‹
›Nein, es sind Franzosen. Aber wechseln wir doch das Thema. Ich bin ein unglückliches und verlassenes Geschöpf. Ich sehe mich um, und ich habe keinen Verwandten oder Freund auf Erden. Diese liebenswürdigen Menschen, zu denen ich gehe, haben mich nie gesehen und wissen wenig von mir. Ich bin voller Befürchtungen, denn wenn ich dort einen Mißerfolg erlebe, bin ich in der Welt für immer ein Ausgestoßener.‹ ›Verzweifeln Sie nicht. Freundlos zu sein heißt wirklich, unglücklich sein, doch sofern nicht von offenkundigem Eigeninteresse verhärtet, sind die Menschenherzen voller brüderlicher Liebe und Barmherzigkeit. Vertrauen Sie deshalb auf Ihre Hoffnungen. Und wenn diese Freunde gutmütig und freundlich sind, brauchen Sie nicht zu verzweifeln.‹
›Sie sind gütig – es sind die trefflichsten Menschen auf der Welt, aber unglücklicherweise sind sie gegen mich voreingenommen. Ich habe gute Anlagen: mein Leben war bisher harmlos und in gewissem Grade nützlich: doch ein verhängnisvolles Vorurteil trübt ihnen die Augen, und wo sie einen mitfühlenden und wohlgeneigten Freund sehen müßten, erblicken sie nur ein abscheuliches Ungeheuer.‹
›Das ist freilich bedauernswert, aber wenn Ihnen wirklich nichts vorzuwerfen ist, können Sie sie nicht aufklären?‹
›Das habe ich jetzt gerade vor. Und eben aus diesem Grunde erfüllen mich so viele überwältigende Ängste. Ich liebe diese Freunde zärtlich. Ich habe ihnen, ohne daß sie es wissen, seit vielen Monaten täglich Gutes erwiesen, aber sie glauben, ich wolle ihnen Schaden zufügen, und eben dieses Vorurteil möchte ich überwinden.‹
›Wo wohnen diese Freunde?‹
›Hier in der Nähe.‹
Der alte Mann schwieg, dann fuhr er fort. ›Wenn Sie mir rückhaltlos die Einzelheiten Ihrer Geschichte anvertrauen wollen, kann ich vielleicht zur Aufklärung Ihrer Freunde beitragen. Ich bin blind und kann Ihr Gesicht nicht beurteilen, aber etwas in Ihren Worten überzeugt mich davon, daß Sie aufrichtig sind. Ich bin arm und lebe im Exil, doch es wird mir eine wirkliche Freude machen, einem menschlichen Wesen auf
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