Frankenstein
Tür meines Zimmers aufging und Mr. Kirwin eintrat. Sein Gesicht drückte Anteilnahme und Mitleid aus. Er zog einen Stuhl dicht an den meinen heran und sprach mich auf französisch an:
»Ich fürchte, hier ist es für Sie sehr unangenehm. Kann ich irgend etwas tun, um es für Sie behaglicher zu machen?«
»Ich danke Ihnen; aber was Sie erwähnen, bedeutet mir nichts. Auf der ganzen Welt gibt es nichts, was mich trösten könnte.«
»Ich weiß, daß die Anteilnahme eines Fremden nur wenig Erleichterung für einen Menschen bedeutet, der wie Sie von einem seltsamen Mißgeschick überwältigt worden ist. Aber ich hoffe, Sie werden diese düstere Unterkunft bald verlassen, denn zweifellos lassen sich leicht Beweise herbeischaffen, um Sie von der Anklage eines Verbrechens zu befreien.«
»Das ist meine geringste Sorge. Ich bin durch eine Kette eigenartiger Ereignisse zum unglücklichsten aller Sterblichen geworden. Verfolgt und gemartert, wie ich es war und bin, kann der Tod mir noch ein Unglück bedeuten?«
»In der Tat konnte nichts tragischer und schmerzlicher sein als die sonderbaren Zufälle, die sich kürzlich ereignet haben. Sie sind durch einen überraschenden Zufall an diese Küste geworfen worden, die für ihre Gastfreundschaft berühmt ist, wurden auf der Stelle verhaftet und des Mordes angeklagt. Der erste Anblick, den Ihre Augen zu sehen bekamen, war die Leiche Ihres Freundes, der auf so unerklärliche Weise ermordet und Ihnen von irgendeinem Teufel sozusagen vor die Füße gelegt worden ist.«
Als Mr. Kirwin das sagte, empfand ich trotz der Erschütterung, in die mich dieser Rückblick versetzte, doch auch erhebliche Überraschung, daß er über mich anscheinend so gut Bescheid wußte. Ich nehme an, auf meiner Miene zeichnete sich die Verwunderung ab, denn Mr. Kirwin beeilte sich fortzufahren:
»Unmittelbar, nachdem Sie erkrankten, brachte man mir alle Papiere, die Sie bei sich hatten, und ich prüfte sie, um irgendeinen Anhaltspunkt zu entdecken, wie ich Ihren Angehörigen eine Nachricht von Ihrem Mißgeschick und Ihrer Krankheit übermitteln könnte. Ich fand mehrere Briefe, darunter einen, den ich, nach der Anrede zu schließen, als ein Schreiben Ihres Vaters erkannte. Ich schrieb sofort nach Genf: seit der Absendung meines Briefes sind fast zwei Monate vergangen. Doch Sie sind krank, sogar jetzt zittern Sie. Sie sind keinerlei Aufregungen gewachsen.«
»Diese Ungewißheit ist tausendmal schlimmer als das furchtbarste Ereignis: sagen Sie mir, welche neue Todesszene sich abgespielt hat und wessen Ermordung ich jetzt beklagen muß!«
»Ihre Familie ist ganz wohlauf«, sagte Mr. Kirwin behutsam, »und jemand, ein Freund, ist gekommen, Sie zu besuchen.«
Ich weiß nicht, welcher Gedankengang die Idee ausgelöst hatte, doch mir schoß sofort durch den Sinn, der Mörder sei gekommen, um über mein Unglück zu spotten und mich mit Clervals Tod zu verhöhnen und mir damit einen neuen Ansporn zu geben, seinen höllischen Wünschen zu willfahren. Ich verdeckte mit den Händen meine Augen und schrie voller Qual:
»Ach! Bringt ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen! Um Gottes willen, laß ihn nicht herein!«
Mr. Kirwin musterte mich mit beunruhigter Miene. Er konnte nicht umhin, meinen Ausruf als ein Indiz meiner Schuld zu betrachten, und sprach in recht strengem Ton:
»Junger Mann, ich hätte gedacht, die Gegenwart Ihres Vaters wäre Ihnen willkommen, statt so heftige Abwehr hervorzurufen.«
»Mein Vater!« rief ich, während jeder Gesichtszug und jeder Muskel sich von der Angst zur Freude entspannte. »Ist mein Vater wirklich gekommen? Wie gut von ihm, wie herzensgut! Aber wo ist er, warum kommt er nicht zu mir geeilt?« .
Der Wandel in meinem Verhalten überraschte und freute den Friedensrichter. Vielleicht dachte er, mein voriger Ausruf sei auf einen flüchtigen Rückfall des Fieberwahns zurückzuführen, und jetzt nahm er sofort wieder seine wohlwollende Haltung von vorher an. Er stand auf und verließ mit meiner Pflegerin den Raum, und im nächsten Augenblick trat mein Vater ein.
Nichts hätte mir in diesem Moment größere Freude machen können als die Ankunft meines Vaters. Ich streckte ihm die Hand entgegen und rief:
»Du bist also wohlauf – und Elisabeth – und Ernst?«
Mein Vater beruhigte mich mit Beteuerungen, daß es ihnen gut gehe, und bemühte sich, indem er auf diesen für mein Herz so wichtigen Themen verweilte, meine niedergeschlagene Stimmung zu heben. Doch bald empfand er, daß ein
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