Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
Verstecken. Wojtyła trank mit dem Mann die Limonade aus und bedankte sich, als hätte der Arbeiter ihm eine Audienz gewährt.
Ich sah, wie der Papst dann mit dem Bischof zu der Kirche ging, die er einweihen sollte, und wie geladen er war. Er ließ den Bischof vor sich antanzen, deutete dann auf die Hütte des Bauarbeiters, und es war unübersehbar, was er wohl sagte: Kümmern Sie sich nicht um diese Kirche aus Stein, kümmern sie sich um Ihre Leute, sonst bekommen Sie es mit mir zu tun!
Dieser Tag hat mich und auch den damaligen offiziellen Papstfotografen Arturo Mari so beeindruckt, dass ich von da an alles für Karol Wojtyła getan hätte, was in meiner Macht stand.
Eine andere Geschichte spielte am See Genezareth während der Reise ins Heilige Land im Jahr 2000. Ich stand mit ein paar Kollegen herum, auf dem Hügel hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt, es war die größte Messe in der Geschichte Israels mit über 100 000 Teilnehmern. Ganz plötzlich kam der Papst – ich weiß nicht mehr, warum er plötzlich nur ein paar Meter von uns entfernt stand – zu uns herüber. »Ach, Reporter«, sagte er lachend, »die braucht kein Mensch.«
Ich weiß noch, dass ich auf Deutsch so etwas Ähnliches zurückrief wie: »Tut uns leid, Heiligkeit, bei uns hat es zu mehr nicht gereicht.«
»Wisst ihr denn auch, warum kein Mensch einen Reporter braucht?«, fragte er.
Wir schüttelten den Kopf. »Weil vor 2000 Jahren genau hier, am Berg der Seligpreisungen, ein Mann stand, der gesagt hat: Selig sind die Barmherzigen, selig sind die, die Frieden stiften, selig sind die Sanftmütigen, selig sind die, die nach Gerechtigkeit dürsten. Kein Reporter hat damals mitgeschrieben, und dennoch hat die Zeit dieses Wort nicht auslöschen können. Nicht einmal die Diktaturen haben das geschafft, weil es die Botschaft Gottes ist und weil wir das spüren.«
Als er das sagte, dachte ich, er hat recht.
Joseph Ratzinger wusste um diese ungeheure Wertschätzung Wojtyłas. Er hatte das in den Jahren 2003 bis 2005 erlebt, und mehr noch: Er war ein wichtiger Teil dieses Verteidigungsrings rund um Karol Wojtyła gewesen.
Im Winter 2012/2013 wusste Joseph Ratzinger, dass jetzt er an der Reihe war. Jetzt brauchte er einen solchen Verteidigungsring, weil seine Kräfte nicht mehr ausreichten, jetzt mussten ihm andere helfen. Denn ein Papst, dessen Kräfte nachlassen, kann für den Vatikan eine gewaltige Chance sein, das hatte Karol Wojtyła bewiesen. Weil die Menschen ihm damals umso genauer zugehört hatten, je weniger er sprechen konnte. Wenn ein Papst spürt, dass er nicht mehr kann, dann sollte die Stunde kommen, in der der Vatikan diesen Papst behütet, beschützt und verteidigt. Aber wenn der Vatikan das gar nicht will, dann wird nicht nur der Körper eines Papstes schwach, sondern vor allem seine Seele.
Ich habe miterlebt, wie Papst Benedikt XVI . im Vatikan immer stärker ausgegrenzt wurde. Er rebellierte dagegen, schrieb sogar als erster Papst der Geschichte einen persönlichen Brief an die Bischöfe, in dem er sie fragte, wie es zu dem »Beißen und Zerreißen« in der Kirche hatte kommen können, warum sie ihn so heftig attackiert hatten. Ich habe gesehen, dass sich niemand vor den Papst stellte, dass es für ihn die Mauer, die Joseph Ratzinger selber mitgebaut hatte, um Karol Wojtyła zu schützen, nicht gab. Das habe ich bereits an diesem Tag bei der Buchpräsentation mit Kardinal Ratzinger im Jahr 2005 gespürt: dass ein Papst gehen muss, wenn er sich nicht getragen fühlt. Und deswegen hatte ich keinen Zweifel daran, dass dieser Papst zurücktreten würde. Denn es gab niemanden mehr, der ihn trug. Mein wichtigster Informant in der Kurie sagte mir am Tag des Rücktritt des Papstes: »Joseph Ratzinger hatte zwei Möglichkeiten: Die erste war, alle zu feuern, die ihn verraten hatten, aber dazu ist er ein zu eleganter Typ. Die zweite Möglichkeit: alle in ihren Ämtern zu belassen und selber zu gehen.«
In den Stunden nach dem Rücktritt meinte man unisono, leicht erkennen zu können, warum der Papst zurückgetreten sei. Der Papst hatte zwei Gründe genannt, und auf den ersten stürzten sich nun alle Kommentatoren. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel beglückwünschte den Papst zu dem mutigen Schritt, angesichts des Schwindens seiner Kräfte zurückzutreten. Die ganze Welt schien sich auf die Tatsache geeinigt zu haben, dass der 85-jährige Papst zurückgetreten war, weil er sich einfach zu schwach gefühlt habe für sein
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