Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
gelehrt und gepredigt hatte, die Verbindung zwischen Glaube und Vernunft. Gott handelte nicht gegen die Vernunft, er war kein unberechenbarer, herrischer und launischer Gott, dem manchmal dieses gefiel und manchmal jenes. Gott war ein vernünftiger Herr der Welt. Ratzinger glaubte an diese Verbindung zwischen Glaube und Vernunft. Deswegen konnte Gott auch der vernünftigen Entscheidung, dass ein alter Papst zurücktreten wollte, nur zustimmen. Die Auffassungen des Joseph Ratzinger und seines Vorgängers waren in diesem Punkt nun einmal grundverschieden. Ratzinger war der Überzeugung, dass Gott dieses mystische Opfer eines leidenden Papstes, der wie Christus am Kreuz in aller Öffentlichkeit litt, gar nicht haben wolle. Statt dieses Opfer zu verlangen, sei Gott völlig einverstanden damit, dass sich ein alter Mann einfach zur Ruhe setzen wolle, nachdem er nach bestem Wissen und Gewissen einen Job wie viele andere auch gemacht hatte.
Mit dieser Auffassung hatte der Papst das Amt zweifellos entzaubert, geschwächt und ihm seinen gewaltigen Anspruch genommen, nicht den irdischen Regeln zu unterliegen. Es war nur ein Amt, das man so lange ausübte, wie es eben ging, und das man aufgab, wenn man seine Arbeit nicht mehr gut machen konnte.
Karol Wojtyła hingegen hatte sein Leiden der ganzen Welt gezeigt und gesagt: Seht her, Gott will das so. Dass ihr seht, dass ich leide! Das Leid ist ein Teil unseres Lebens, ich laufe nicht vor dem Leid davon. Ich zeige euch, wie viel Kraft Gott denen gibt, die leiden, den alten, den kranken, den schwachen Menschen, Menschen, die so sind wie ich. Wojtyła hatte geglaubt, dass ein Papst kein Recht habe auf einen Lebens- und einen Feierabend. Joseph Ratzinger hingegen hatte das Papstamt so interpretiert, dass es weltlichen Ämtern vergleichbar war. Ein Amt, in dem jetzt auch möglich war, dass Kardinäle einen Papst zum Rücktritt auffordern konnten, sollte er nach ihrer Auffassung nicht mehr in der Lage sein, es ausfüllen zu können.
Obwohl hinter den Mauern des Vatikans unübersehbar war, wie sehr die Kirche der Rücktritt verunsicherte, schienen die Kardinäle im Vatikan zunächst den gleichen Kurs einzuschlagen wie viele Politiker weltweit, die zunächst fast ausnahmslos die mutige Rücktrittsentscheidung des Papstes lobten. Nur eine ganz leise Stimme übte verhalten Kritik. Der Erzbischof von Krakau, der langjährige Sekretär Papst Johannes Pauls II ., Stanisław Kardinal Dziwisz, erinnerte daran, dass Karol Wojtyła der Meinung gewesen sei, vom Kreuz steige man nicht herab. Dziwisz versicherte aber sofort, dass er die Entscheidung von Papst Benedikt XVI . selbstverständlich respektiere.
Dass es hinter den Kulissen doch mehr brodelte, als es nach außen den Anschein hatte, dass mehrere Kardinäle diese Revolution des Papstes, das Amt durch einen Rücktritt zu entmystifizieren, nicht guthießen, ließ sich erst am Sonntag, den 24. Februar 2013, erkennen. Es war der Tag des letzten Angelus-Gebets von Papst Benedikt XVI . Auf dem Petersplatz strömte eine Menge von mehr als 100000 Menschen zusammen, um den Papst ein letztes Mal an einem Sonntag zu sehen. An diesem Tag ließ sich das Phänomen Ratzinger noch einmal bestaunen. Verstehen kann man diesen schüchternen und demütigen Mann nur dann, wenn man begreift, dass er es hasst, im Mittelpunkt zu stehen. Auch an diesem Tag, an dem er im Mittelpunkt stand wie vermutlich noch nie zuvor in seinem Leben, las er eine Auslegung der Heiligen Schrift vor, als wäre dies die normalste Sache der Welt, als habe er diese dramatische Entscheidung des Rücktritts nicht erst kurz zuvor gefällt. Alles an Ratzinger strahlte wie immer aus: Es geht nicht um mich.
Doch dann, ganz plötzlich, spürten die Menschen auf dem Platz die Anspannung des Joseph Ratzinger. Es war leicht zu erkennen, was dem Papst bei dieser Ansprache so wichtig war. Wie er es ein Leben lang als Professor gehalten hatte, hob er auf einmal energisch den Zeigefinger, als wollte er den Menschen dort unten diesen zentralen Punkt seiner Vorlesung ins Gedächtnis einhämmern. Er habe das Amt des Papstes nicht verlassen, erklärte er den Menschen, er sei nicht getürmt vor der Verantwortung. Er werde der Kirche jetzt auf andere Weise dienen, durch das Gebet. Aber dieser Zeigefinger des aufgebrachten alten Mannes ließ eines ganz klar erkennen: Es hatte im Vatikan viel mehr Kritik an dem alten deutschen Papst wegen seines Rücktritts gegeben, als nach außen sichtbar war. Er hatte
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