Fratze - Roman
unserem rotgoldenen Glasschmuck und diesen silbernen Plastikteilen, die immer elektrisch aufgeladen sind und von den Leuten Eiszapfen genannt werden. Ewig derselbe schäbige Engel mit dem Gummipuppengesicht oben auf der Spitze des Baums. Als Deko auf dem Kaminsims immer dasselbe Engelhaar aus gesponnenem Fiberglas, das sich einem in die Haut frisst und wovon man einen entzündlichen Ausschlag kriegt, wenn man nur in seine Nähe kommt. Immer dieselbe Weihnachtsplatte von Perry Como aus der Stereoanlage. Das spielt alles zu Zeiten, wo ich noch ein Gesicht habe, weshalb es noch keine solche Herausforderung für mich ist, Weihnachtslieder zu singen.
Mein Bruder Shane ist immer noch tot, also versuche ich, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erwarten, sondern einfach nur ein ruhiges Fest. Zu der Zeit machte mein Liebster, Manus, ständig Theater, weil er fürchtete, seinen Job bei der Polizei zu verlieren, und ich hatte einfach
mal ein paar Tage ohne Scheinwerferlicht nötig. Wir hatten uns alle abgesprochen, meine Mom, mein Dad und ich, und uns darauf geeinigt, dass wir uns dieses Jahr nichts Großes schenken würden. Nur ein paar Kleinigkeiten vielleicht, meinten meine Eltern, damit der Strumpf nicht so leer ist.
Perry Como singt: »It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas.«
Die roten Filzstrümpfe, die meine Mutter für uns beide genäht hat, für Shane und mich, hängen am Kamin, zweimal roter Filz und darauf unsere Namen, von oben nach unten, in draufgenähten weißen Filzbuchstaben. Beide ausgebeult von den hineingestopften Geschenken. Es ist der Weihnachtsmorgen, und wir sitzen alle um den Baum herum, mein Vater hält das Klappmesser für die zusammengeknoteten Geschenkbänder bereit. Meine Mutter hat eine braune Einkaufstüte und sagt: »Bevor alles drunter und drüber geht, kommt das Geschenkpapier hier rein und wird nicht überall in die Gegend geworfen.«
Meine Mom und mein Dad sitzen in Lehnsesseln. Ich sitze auf dem Fußboden vor dem Kamin, die Strümpfe neben mir. Die Szene ist immer dieselbe: Sie sitzen da mit ihrem Kaffee, über mich gebeugt, und beobachten meine Reaktion. Ich im Schneidersitz auf dem Fußboden. Wir alle noch in Pyjama und Morgenmantel.
Perry Como singt: »I’ll Be Home for Christmas.«
Das erste Teil aus meinem Strumpf ist ein kleiner Koalabär, ein Stofftier von der Sorte, die einen Bleistift festhalten kann, mit Händen und Füßen, die mit Sprungfedern verstärkt sind. Für so was halten meine Eltern mich. Meine Mom reicht mir einen Becher mit heißer Schokolade, auf
der Mini-Marshmallows schwimmen. Ich sage: »Danke.« Unter dem Koala liegt eine kleine Schachtel, ich nehme sie heraus.
Meine Eltern lassen alles stehen und liegen, lehnen sich nach vorn über ihren Kaffee und beobachten mich.
Perry Como singt: »Oh, Come, All Ye Faithful.«
Die kleine Schachtel ist eine Kondompackung.
Gleich neben unserem glitzernden, magischen Weihnachtsbaum sagt mein Vater: »Wir wissen nicht, wie viele Partner du pro Jahr hast, aber wir möchten, dass du auf Nummer sicher gehst.«
Ich stopfe die Kondome in meine Morgenmanteltasche und sehe den Mini-Marshmallows beim Schmelzen zu. Ich sage: »Danke.«
»Die sind aus Latex«, sagt meine Mom. »Da reicht es, ein Gleitmittel auf Wasserbasis zu benutzen. Falls du Gleitmittel brauchst in deinem Alter. Keine Vaseline oder ungehärtete Fette oder Lotionen irgendwelcher Art.« Sie sagt: »Wir haben nicht die Sorte für dich besorgt, die aus Schafsdarm gemacht ist, weil die winzige Poren haben, durch die der HI-Virus übertragen werden kann.«
Das Nächste in meinem Strumpf ist eine weitere kleine Schachtel. Noch mehr Kondome. Die auf der Schachtel angegebene Farbe heißt Nackt . Das scheint mir eine irgendwie überflüssige Angabe. Daneben steht geruchsund geschmacklos .
Oh, über Geschmacklosigkeit könnte ich euch einiges erzählen.
»Es gibt eine Studie«, sagt mein Vater, »eine telefonische Befragung von Heterosexuellen in städtischen Gebieten mit hoher HIV-Infektionsrate, die zeigt, dass es fünfunddreißig
Prozent der Leute unangenehm ist, sich ihre Kondome selbst zu kaufen.«
Und sie vom Weihnachtsmann zu bekommen, ist besser? Ich sage: »Verstehe.«
»Es geht hier nicht nur um Aids«, sagt meine Mom. »Sondern auch um Gonorrhöe. Syphilis. Humane Papillomviren. Das sind Genitalwarzen.« Sie sagt: »Du weißt, wie man das Kondom überzieht, sobald der Penis erigiert ist, nicht wahr?«
Sie sagt: »Ich habe ein Vermögen bezahlt
Weitere Kostenlose Bücher