Fratze - Roman
Fingern.
Ich fische noch eine rot-rosa Kapsel heraus, und sie schluckt sie trocken runter.
»Dieser Kerl«, sagt Brandy, »fordert mich auf, in sein Auto zu steigen, zum Reden, nur zum Reden, und fragt, ob ich irgendetwas zu sagen hätte, was ich mich vor den Leuten vom Jugendamt vielleicht nicht zu sagen getraut hätte.«
Das Kleid geht aus dem Leim, die Seide platzt an sämtlichen Nähten, der Tüll quillt heraus, und Brandy sagt: »Dieser Kerl, dieser Polizist, als ich ›Nein‹ sage, sagt er: ›Gut.‹ Er sagt, er mag Kinder, die ein Geheimnis für sich behalten können.«
Nach einem Zugunglück konnte man Bleistifte einsammeln, zweitausend auf einmal. Funktionierende Glühbirnen, die innen nicht rasselten. Schlüsselrohlinge zu Hunderten. Natürlich ging nicht alles in unseren Pickup rein, und inzwischen waren auch andere Leute mit ihren Trucks eingetroffen und schaufelten Getreide auf ihre Rückbänke oder beobachteten, wie wir vor unseren viel zu großen Haufen standen und zu entscheiden versuchten, was wir dringender brauchten: zehntausend Schnürsenkel oder tausend Gläser Selleriesalz. Die fünfhundert Keilriemen, alle von derselben Größe, die wir nicht brauchten,
aber weiterverkaufen konnten, oder die Doppel-A-Batterien. Die Kiste mit Backfett, das wir nicht aufbrauchen konnten, bevor es ranzig wurde, oder die dreihundert Dosen Haarspray.
»Der von der Polizei«, sagt Brandy, und alle Drähte stechen aus der straffen gelben Seide hervor, »legt mir eine Hand aufs Bein, ganz oben auf meine Shorts, und sagt, wir müssen den Fall nicht noch mal aufrollen. Wir brauchen meiner Familie keine Schwierigkeiten mehr zu machen.« Brandy sagt: »Er sagt, die Polizei will meinen Vater verhaften, weil er unter Verdacht steht. Er kann das verhindern, sagt er. Er sagt, es liegt ganz bei mir.«
Brandy atmet ein, und das Kleid zerreißt, sie atmet und macht sich mit jedem Atemzug an noch mehr Stellen nackt.
»Was wusste ich denn schon«, sagt sie. »Ich war fünfzehn. Ich hatte von nichts eine Ahnung.«
Aus hundert aufgerissenen Stellen blickt nackte Haut hervor.
Nach dem Zugunglück sagte mein Vater, der Sicherheitsdienst müsse jeden Augenblick eintreffen.
Für mich hörte sich das an wie: wir würden reich. Wir wären in Sicherheit. In Wirklichkeit aber meinte er, wir müssten uns beeilen, sonst würden wir erwischt und alles verlieren.
Natürlich erinnere ich mich daran.
»Der Polizist«, sagt Brandy, »war noch jung, einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Kein schmutziger alter Mann. Es war nicht schrecklich«, sagt sie, »aber Liebe war es nicht.«
Das Kleid zerreißt noch mehr, und das tragende Gerippe springt an verschiedenen Stellen auseinander.
»Hauptsächlich«, sagt Brandy, »hat es mich für lange Zeit sehr verwirrt.«
So bin ich aufgewachsen, mit solchen Zugunglücken. Unser einziger Nachtisch von meinem sechsten bis neunten Lebensjahr war Karamellpudding. Zufällig konnte ich Karamell nicht ausstehen. Auch nicht die Farbe. Besonders die Farbe. Und den Geschmack. Und den Geruch.
Manus lernte ich kennen, als ich achtzehn war. Da klopfte ein großartig aussehender Bursche bei meinen Eltern an die Haustür und fragte, ob wir je wieder was von meinem Bruder gehört hätten, nachdem er weggelaufen sei.
Der Bursche war ein bisschen älter, aber noch vertretbar. Fünfundzwanzig, höchstens. Er gab mir eine Karte, auf der stand Manus Kelley. Unabhängiger Sonderbeauftragter der Abteilung Sitte. Ansonsten fiel mir nur noch auf, dass er keinen Ehering trug. Er sagte: »Weißt du, du siehst deinem Bruder ziemlich ähnlich.« Er lächelte breit und sagte: »Wie heißt du?«
»Bevor wir zum Auto zurückgehen«, sagt Brandy, »muss ich dir etwas von deinem Freund erzählen. Mr. White Westinghouse.«
Ehemals Mr. Chase Manhattan, ehemals Nash Rambler, ehemals Denver Omelet, ehemals Manus Kelley, unabhängiger Sonderbeauftragter der Abteilung Sitte. Ich mache die Hausaufgaben: Manus ist dreißig Jahre alt. Brandy ist vierundzwanzig. Als Brandy sechzehn war, war
ich fünfzehn. Als Brandy sechzehn war, war Manus vielleicht schon ein Teil unseres Lebens.
Ich will das nicht hören.
Das schönste aller alten vollkommenen Kleider ist im Eimer. Seide und Tüll sind auf den Boden der Ankleidekabine gefallen, gerutscht, gesunken; Drähte und Fischbeinstäbe sind zerbrochen und gesprungen und haben bloß ein paar rote, bereits verblassende Abdrücke auf Brandys Haut hinterlassen, und
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