Frau an Bord (Das Kleeblatt)
Sie mir doch bitte mal den Scharnow aus dem Schrank. Ja, richtig, seine ‚Wetterkunde’. Da steht es ganz sicher genau beschrieben. Unterrichtet der gute, alte Prof eigentlich immer noch an der Seefahrtsschule? Ich habe übrigens meine Diplomarbeit bei ihm zu einer Zeit geschrieben, als er selber mit einer Arbeit über Meteorologische Navigation im Bereich tropischer Wirbelstürme promoviert hat. Schon damals war er eine anerkannte Kapazität auf seinem Gebiet.“
Ohne Unterlass suchte Hans Nienberg neue Aufgaben für seine angeschlagene Funkassistentin, die jetzt sichtlich mit nach oben drängenden Problemen zu kämpfen hatte. Der alte Schiffsoffizier wusste, dass die Frau einzig durch permanente Beschäftigung davon abgelenkt werden würde, und drückte ihr irgendwann wortlos eine Schachtel Kinetosin in die Hand. Dazu stellte er einen Plastikbecher neben eine Flasche Wasser auf die Back.
Als Suse beinahe im Stehen einschlief, scheuchte er sie im Befehlston aus dem Schapp, versäumte indes nicht, ihr dabei väterlich auf die Schulter zu klopfen. Er würde ebenfalls gleich Feierabend machen, beruhigte er seine Assistentin, die matt aufbegehrte. Mehr als die letzten Wetterberichte konnten die Funker zur Unterstützung des Wachoffiziers auf der Kommandobrücke ohnehin nicht beisteuern.
Die Schiffsbewegungen hatten in der Dünung der maßen an Heftigkeit zugenommen, dass Suse eine gefühlte Ewigkeit benötigte, um ihre Kammer ohne gebrochene Knochen zu erreichen. Nach einem flüchtigen Blick in Richtung Bad bog sie gleich nach backbord in ihre Kammer ab. Das Zahnwehmännchen würde sie heute Nacht sicher nicht finden. Nicht mal dieser kleine Fiesling traute sich bei solchem Schlechtwetter ins Freie.
Völlig ausgepumpt schaffte sie es nicht mehr , ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie sich in die Koje verholte. Es war, als hätte sie all ihre Kraft für die paar Höhenmeter zwischen Funkschapp und Assi-Gang verbraucht. Im gleichmäßigen Zehn-Sekunden-Takt war sie von Backbord nach Steuerbord und zurück geschleudert worden. Behutsam tastete sie über ihren Oberarm und den linken Hüftknochen und fragte sich zähneknirschend, wie viele blaue Flecken sie morgen am ganzen Körper zählen würde. Oder Adrian. Sie lächelte erschöpft. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis auch ihr Seebeine gewachsen waren, mit denen sie den Schiffsbewegungen wirksam entgegentreten konnte.
Tief durchatmend sank sie aufs Kissen und mühte sich einzuschlafen. Sie hatte gehorsam einige der Tabletten von Hans Nienberg geschluckt, obwohl sie überzeugt war, dass diese bei Windstärke 9 bis 10 wirkungslos bleiben würden. Das nicht nachlassende Rollen des Schiffes seit dem Vormittag hatte sich mit konstanter Boshaftigkeit auf ihre Eingeweide übertragen und ihr Gleichgewicht aus den Fugen geraten lassen. Wenn die Tabletten schon nicht gegen Seekrankheit halfen, war sie davon zumindest müde geworden.
Ächzend rollte sie sich auf den Rücken und starrte die Matratze des oberen Etagenbettes an. Ihre Hände krampften sich am Bett gestell fest, damit sie nicht aus der Koje katapultiert wurde. Ob ein Mensch bei diesem Seegang überhaupt zur Ruhe kommen konnte? Sie zwang sich, die Augen zu schließen, und hoffte, der Schlaf würde sie schneller übermannen als die Übelkeit. In ihrem Magen rumorte es unheilvoll. Sie presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich darauf, das Abendessen bei sich zu behalten. Viel war es ohnehin nicht gewesen.
Kaum hatte sie das gedacht, hörte sie im Bad nebenan die Stewardess röhren. Die Wände schienen aus Pappe zu sein, so deutlich waren die unmissverständlichen Geräusche zu vernehmen. Nein, sie konnte Simone nicht helfen. Oh Gott, und sie hatte die Stewardess am Nachmittag ausgelacht, weil diese eine persönliche Katastrophe angesichts der zunehmenden Dünung prophezeit hatte!
Sissi, das war wirklich ausgesprochen kindisch von mir. Ich hatte echt keine Ahnung, wie das bisschen Wellengang ausarten würde. Es sah ja auch erst gar nicht so wild aus, wie du zugeben musst. Morgen werde ich mich bei dir entschuldigen, Sissi. Bestimmt. Morgen.
Suse knüllte ihr Kopfkissen zusammen, drehte sich auf die linke Seite und packte das Kissen auf das rechte Ohr. Ihre Hand berührte etwas Hartes. Erschrocken fuhr sie hoch und stieß sich prompt den Kopf am Bettgestell der oberen Koje. Sie keuchte verzweifelt auf, als sie die kleine Pappschachtel zwischen den Fingern fühlte. Oh nein! Der
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