Frau an Bord (Das Kleeblatt)
sie allerdings von der zu erwartenden Verschlechterung der Wetterbedingungen Kenntnis hatte, fühlte sie sich ähnlich wie die Stewardess – seekrank.
Ein Wirbelsturm! Ohne Frage wusste sie um die verheerenden Auswirkungen dieser Naturerscheinung – von erschreckenden Bildern aus dem Fernsehen und aus reißerischen Actionfilmen. Jedes Mal hatte sie sich vorgestellt, wie sie in solch einer Situation reagieren und was sie tun würde, um sich oder andere zu retten. Doch warum allzu viele Gedanken an „wenn“ und „hätte“ und „möglicherweise“ verschwenden, da man tausende Kilometer am anderen Ende der Welt lebte?
Viel zu schnell hatte sie sich danach wieder dem Alltag zugewandt.
Jetzt und hier dagegen betraf es sie, Susanne Reichelt aus dem vor derlei Naturkatastrophen sicheren Deutschland. Hier konnte sie sich nicht in einem Erdbunker verkriechen und in aller Gemütlichkeit abwarten, bis die Gefahr über sie hinweg gezogen war. Sie hatte ihr Leben in genau dem Augenblick in die Hände fremder Menschen gelegt, als sie ihren Fuß auf die „Fritz Stoltz“ gesetzt hatte. Doch erst in dieser Sekunde wurde sie sich der Tragweite dessen bewusst. Und ihr war höchst unwohl bei der Vorstellung vollkommener Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer. Sie konnte nur hoffen, dass die Schiffsführung wusste, was sie tat. Ob sie nun wollte oder nicht, ob sie die Männer persönlich mochte oder eher ablehnte, ihr blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Zu hoffen und abzuwarten. Ihre Finger kratzten ratlos am Hinterkopf. Oder doch besser heimlich beten?
Inzwischen hatte sie zum x-ten Mal eine Sturmwarnung der spanischen Küstenfunkstelle Coruñia Radio nach nebenan auf die Brücke gebracht. Aus den zwischen Kapitän und dem Dritten Nautischen Offizier hin und her fliegenden Gesprächsfetzen hatte sie sich zusammengereimt, dass seit geraumer Zeit über eine Kursänderung in Richtung auf die Azoreninsel Sao Miguel diskutiert wurde. Allerdings konnte sie nicht mehr hören, wie sich die Männer schließlich geeinigt hatten.
Die Karte, die sie gerade mit vor Aufregung flatternden Händen aus dem Wetterkartenschreiber zog, versprach keinen magenschonenden Abend. Obwohl Meteorologie nicht unbedingt zu ihren Lieblingsfächern an der Seefahrtsschule gehört hatte, eine Wetterkarte vermochte sie zu lesen. Die aufgezeichneten Luftdruckwerte wurden beständig niedriger und das bedeutete unzweifelhaft, dass sich das Zentrum des Wirbelsturms der „Fritz Stoltz“ näherte.
Und noch eine weitere Beobachtung machte Susanne die außergewöhnliche Situation dieser Nacht in der Biskaya deutlich. Mit einem Mal überraschend bereitwillig ging Hans Nienberg auf die bangen Fragen seiner sonst so nutzlosen Assistentin ein. In ruhigem Tonfall hatte er ihr erklärt – und sich obendrein die Mühe gemacht, seine ausführlichen Erläuterungen mit einer Skizze zu veranschaulichen –, dass der Wirbelsturm „Colette“ seine Zugrichtung mittlerweile von Nordost auf Ost geändert hatte und mit dreißig Knoten südlich an der „Fritz Stoltz“ vorbeiziehen würde. Das bedeutete gleichzeitig eine relative Entwarnung, da „Colette“ sie nun mit dem vorderen, linken Sektor streifen würde, welcher als das befahrbare Viertel galt, aus dem ein Schiff bei dem hier herrschenden Wind am ehesten vom Wirbelsturm freikommen konnte.
Suse schüttelte sich bei dem Gedanken an den wütenden Sturm. Hoffentlich hielt der den momentanen Kurs bei und ließ sie in Ruhe. Sie legte keinen gesteigerten Wert darauf , mit Rasmussen zu telefonieren und dabei Neptun zu opfern, auf gut Deutsch also: die Außenbordkameraden füttern.
Ungestüm riss ihr der Kapitän die Wet terkarte aus der Hand und seine Augen blitzten gefährlich. „Wie lange soll ich eigentlich noch darauf warten? Schlaft ihr wieder mal selig in eurem Kämmerlein?“
Sie zuckte enttäuscht mit den Schultern , als sie sein verächtlich geknurrtes: „Typisch Funker!“ vernahm. Er macht einen besorgten Eindruck, fand sie und hatte das Gefühl, ihr Herz würde in einen Abgrund sinken.
Frisko verschwand hinter dem Vorhang im Kartenraum, lediglich das Brummen seines Basses und das Rascheln von Papier waren zu hören. Sekunden später stapfte er erneut mit hochrotem Kopf über die Kommandobrücke. Er winkte gereizt ab, als ihm der Wachmatrose zaghaft einen Kaffee anbot. Dann blieb er abrupt stehen und fuhr zu Suse herum. Seine Augen waren in dem
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