Frau Bengtsson geht zum Teufel
zu einem Schluss, der ganz im Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen stand. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Rakel nur aufgrund ihres Glaubens so zuversichtlich, zufrieden und gelassen sein konnte.
Wahrscheinlich war das Mädchen schon vorher gläubig gewesen und hatte nach dem Tod seiner Eltern umso stärkeren Trost bei Dem-Da-Oben gefunden und neue Kraft aus ihrer tiefen Überzeugung geschöpft. Ja, solche Kraft hatte der Herr ihr gegeben, und so fromm war sie, dass der Tod ihrer Eltern sogar etwas Positives mit sich gebracht hatte, nämlich den Ruf zur geistlichen Führung, um anderen Menschen aus ähnlichen Krisen zu helfen und ihnen den Weg zu weisen, mit dem Glauben als Kompass.
Weit gefehlt.
Wie bereits erwähnt, hatte der Tod der Eltern Rakels Glauben erschüttert. Ihr ruhiges und beiges Auftreten war nur Fassade, um den Mangel an Frömmigkeit zu kompensieren, der das junge Fräulein plagte. Und Pastorin wollte sie werden, weil es cool war. Und weil man damit den miserablen Zukunftsaussichten eines religiösen Journalisten entkam.
Aber all das wusste Frau Bengtsson nicht.
Sie rollte die Angelegenheit gewissermaßen von hinten auf, was man gut verstehen kann. Sogar das junge Fräulein Karlsson versuchte sich auf diese Weise selbst zu betrügen.
Vielleicht, dachte Frau Bengtsson, kann Gott mich auch so ausgeglichen machen?
An jenem Sonntag also, während Herr Bengtsson den Rasen mähte, saß sie am Küchentisch und dachte über ihren Glauben nach.
War sie eine Christin?
Die Antwort war ein klares Jein.
Nein – denn sie ging nicht in die Kirche.
Und nein – sie hatte nie die Bibel gelesen.
Ja – weil sie
O Gott o Gott o Gott
gedacht hatte, bevor sie starb.
Und ja – denn manchmal erfüllte sie heftige Freude und Dankbarkeit, die der Liebe zu etwas Höherem nahekam, vielleicht zu einer Art Schöpfer. Zum Beispiel wenn sie im Wald spazieren ging und die Natur ringsum aufblühte.
Nein – es kümmerte sie nicht, ob sie sündigte oder fluchte (was sie allzu oft tat).
Und nein – sie betete weder am Morgen noch vor den Mahlzeiten noch vorm Schlafengehen.
Ja – sie betete, wie es die meisten tun, wenn etwas furchtbar schiefging oder sie etwas unbedingt erreichen wollte. Wenn sie etwas begehrte: »Lieber Gott, wenn du das so und so machst, verspreche ich …«
Und nein – sie hatte nie ein schlechtes Gewissen, wenn sie solche Versprechen nicht hielt.
Also ein klares Jein.
Anders gesehen stand immerhin fest, dass sie keine Atheistin war. Erstens glaubte sie wirklich an
irgendetwas
– wie die meisten modernen Schweden –, und zweitens wagte sie es nicht, Gottes Existenz zu verleugnen.
Man konnte ja nie wissen.
Und das hatte doch etwas zu bedeuten?
Jüdin war sie nicht. Auch keine Muslima, keine Hinduistin und keine Buddhistin.
In den neunziger Jahren war sie eine Weile dem Trend gefolgt und wollte New Agerin werden, aber das hatte auf Dauer nicht funktioniert. Erstens fand ihr Mann, dass sie nicht recht bei Trost war, als sie das ganze Haus mit Kristallen und Pyramiden vollstopfte, und zweitens hatte sie das Durcheinander selbst bald satt. Täglich plagten sie Kopfschmerzen, und sie folgerte, dass dies von der gesammelten Energie der angeschleppten Kristalle herrührte. Tatsächlich hörten sie auf, nachdem sie die Steine weggeworfen hatte. Nein, nicht die New Ager.
Im Zug dieser Mode hatte sich Frau Bengtsson eine Zeitlang gefragt, ob sie vielleicht eine
wicce
war, aber als sie herausfand, dass eine »weiße Hexe« ein langweiliges Wesen ohne jede Zauberkraft und die schwarze Magie dagegen viel aufregender war, bekam sie ein schlechtes Gewissen und beendete den Flirt mit dem Übernatürlichen.
Vielleicht steckte doch eine kleine Buddhistin in ihr? Sie hatte etliche Schriften des Dalai Lama gelesen und fand, dass Herr Lama ein vernünftiger und sympathischer Mann war, wenn man einmal davon absah, dass sein Kampf für ein freies Tibet die Wiedereinführung der privilegierten Lama-Kaste beinhaltete und – wenn er erfolgreich wäre – das tibetanische Volk erneut einer theokratischen Herrschaft unterwerfen würde. Damit konnte sie leben. Dass der Dalai Lama wie jeder andere Mensch von den Gesellschaftsnormen seiner Kindheit und Jugend geprägt war, machte seine Bücher nicht weniger denkwürdig.
Eigentlich war er aus demselben Grund wie Jesus sympathisch. Dass man geduldig und nett sein und anderen nichts Böses tun sollte, hatten beide Herren
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