Frau des Windes - Roman
schlafe in einem wunderschönen wagon-lit , der auf einem toten Gleis steht, die Leute auf der Straße schenken uns Essen und Süßigkeiten. Noch nie im Leben habe ich so gut gegessen! Und du, was machst du?«
»Ich zeichne und schreibe mit beiden Händen, das ist eine besondere Gabe.«
»Wohl eine wie die, die Nase zu bewegen.«
»Nein, das kann nur ich. Ich bin etwas Besonderes.«
»Ich glaube, du hast recht«, sagt Giovanni und verabschiedet sich mit breitem Lächeln.
Ihre Mitschülerinnen schlagen vor, im Giubbe Rosse Tee trinken zu gehen.
»Kann ich Giovanni Proiettis einladen?«, fragt Leonora aufgeregt. »Er ist einer der Studenten, die aus Rom gekommen sind, um die Bibliotheksbücher zu retten.«
»Deine Eltern würden das nicht gutheißen«, antwortet die spargelbeinige Miss Penrose.
»Mit einem völlig Unbekannten würde ich keine Beziehung anfangen«, sagt Elizabeth Apple, statt sie zu unterstützen.
»Du und ich waren doch auch einander völlig Unbekannte, als wir zum ersten Mal Miss Penroses Pension betraten.«
»Das ist egal, wir gehören derselben Schicht an.«
»Ich gehöre keiner Schicht an, ich bin ein Pferd.«
»Ach komm, Leonora.«
»Ich werde diesen Jungen treffen, ob es erlaubt ist oder nicht. Wenn du willst, sag Miss Penrose, ich hätte mich in den Uffizien mit ihm verabredet.«
»Du hast dich also schon mit ihm getroffen?«
»Ja, klar, und er gefällt mir heute schon besser als gestern, und morgen wird er mir noch besser gefallen.«
›Ihre Tochter hat zu viel Temperament‹, schreibt Miss Penrose an Harold Carrington.
Immer wenn Leonora einen neuen Maler entdeckt, sagt sie sich: ›So würde ich gerne malen, so wäre ich gern.‹
Sie ist einfach nicht aus den Museen zu kriegen. Eines Nachmittags wird sie vermisst, bis Miss Penrose sie schließlich vor Simone Martinis Verkündigung sitzen sieht.
»Die Madonna ist schlechter Laune, sie will keine Gottesmutter sein.«
›Ihre Tochter ist unkontrollierbar‹, steht in einem Brief an Maurie. ›Man weiß nie, was sie tun oder wie sie reagieren wird.‹
Padua, Venedig und Rom faszinieren sie; an Florenz verliert sie ihr Herz. In den Uffizien entdeckt Leonora Arcimboldo. Seine Gemüsegesichter erinnern sie an die schmale Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Phantasie, von der O’Connor, der Jesuit, gesprochen hat. Sind diese seltsamen Köpfe aus Wurzeln, Obst und Gemüse Halluzinationen? Unterschieden sich Arcimboldos geistige Fähigkeiten von denen anderer Menschen? Die Lippen aus Pilzen, Erdbeeren oder Kirschen begeistern sie. Manchmal sind auch Augen Kirschen und verfärben sich rot. »Dieser Maler ist krank«, befindet Miss Penrose, während sie die Mädchen durchs Museum führt, und Leonora spürt, wie ihr Wut die Kehle hochkriecht.
»Dieser Maler hat eine überschäumende Phantasie. Er ist ein Genie.«
»Er ist anormal.«
»Ich wäre gern so anormal wie er.«
In den Winterferien des Jahres 1932 fährt Leonora mit ihren Eltern in die Schweiz, in die Nähe der Jungfrau. Die Mutter läuft Schlittschuh, der Vater widmet sich seinem geliebten Curling. Leonora fährt Ski und fällt dabei in den Schnee; sofort hilft man ihr auf die Beine. Beschämt erklärt sie den Herbeigeeilten, ihr Sport sei das Reiten, das beherrsche sie. Junge Leute laden sie zum Schlittenfahren über verschneite Hänge ein und abends zum Tanzen, sie sitzen mit ihr beim Fondue, umwerben sie und sind enttäuscht, weil sie ihnen die Gesellschaft zweier Bernhardiner vorzieht, die ihr bis aufs Zimmer folgen, einen Schneeklumpen an jeder Pfote. »Das ist verboten, Miss Carrington, die Hunde müssen draußen bleiben.« Schließlich hält Leonora sich den ganzen Tag mit den Hunden im Freien auf, und Harold Carrington ärgert sich. Warum kann seine einzige Tochter nicht so sein wie alle anderen? Leonora sieht Eispferde zwischen den Bäumen, das kleinste Geräusch erinnert sie an Pferdegetrappel, im Schnee entdeckt sie Hufspuren, die blendend weißen Bergkuppen bilden den Rücken einer riesigen Stute, die über der Erde liegt.
In der Schweiz trifft ein Telegramm aus Florenz ein, in dem Miss Penrose warnt, Leonoras Zimmergenossin Elizabeth Apple habe eine ansteckende Krankheit: Scharlach.
Plötzlich krümmt sich Leonora. Ein stechender Schmerz lähmt ihr rechtes Bein.
»Blinddarmentzündung«, diagnostiziert der Hotelarzt, »sie muss sofort ins Krankenhaus nach Bern.«
Als Leonora erwacht, schaut sie in die Augen ihrer Mutter.
»Bestimmt haben sich vom
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