Frau des Windes - Roman
vielen Reiten deine Eingeweide verknotet.«
»Wie kannst du nur so einen Unsinn reden?«, hört sie den Vater sagen.
Also ist auch er im Krankenhaus. In seiner Stimme, die sich dunkel vom Weiß ringsum abhebt, liegt Besorgnis.
Als sie entlassen wird, stützt ihr Vater sie beim Gehen.
»In Hazelwood wirst du schnell wieder gesund werden.«
Vierzehn Tage später betritt Leonora seine Bibliothek und fragt:
»In Paris gibt es doch sicher viele Schulen für junge Damen, oder?«
Harold und Maurie Carrington sind einverstanden, und die Mutter hocherfreut.
»In Paris ist man schnell, nach der Wohltätigkeitsgala in Islington besuche ich dich.«
Kastanienduft
Dass sie von klein auf Französisch spricht, ist ein Vorteil, so läuft Leonora ohne jede Furcht durch Paris. Das Straßenleben lockt sie weit mehr als die Schule.
»Wohin gehst du, Leonora?«
»Auf die Straße.«
»Du hast Unterricht in französischer Literatur.«
»Draußen lerne ich mehr, Frankreichs Geschichte liegt auf seinem Pflaster. Und ich will mal sehen, wie die Hosenbeine der Männer unter den pissotières hervorlugen.«
»Wenn du weiter gegen die Vorschriften verstößt, müssen wir dich der Schule verweisen.«
»Nichts wäre mir lieber.«
Abermals fliegt sie von der Schule. Warum ist es unmöglich, sie gefügig zu machen? Die monatlichen Zahlungen werden gekürzt, Entbehrung soll sie bändigen. Der zornige Vater schickt sie auf eine strengere Pariser Schule, die von Miss Sampson. Hier geht ihr kleines Zimmer auf einen Friedhof hinaus. ›In diesem Gefängnis bleibe ich nicht‹, denkt sie, ›das bringt Unglück.‹ Sie reißt aus und flüchtet zu Simon, einem mit den Eltern bekannten Kunstlehrer. Leonoras Entschlossenheit überzeugt ihn. Das Ungestüm dieses Mädchens gleicht dem der Templer. Sie zurückzuweisen fällt schwer.
Endlich fühlt Leonora sich wohl, denn Simon erlaubt ihr, den ganzen Tag im Louvre vor der Mona Lisa zu verbringen, durch die Rue des Beaux-Arts zu schlendern, am Seineufer spazieren zu gehen, von der Pont Neuf aus über den Fluss zu schauen und sich zu unterhalten, mit wem sie Lust hat. Simon begleitet sie sogar zu den Quais auf der Suche nach Büchern über Alchemie und trinkt in Saint-Germain-des-Prés Kaffee mit ihr. Er verlangt nur eines: Um halb elf muss sie zu Hause sein.
Als sie kein Geld mehr hat, geht sie ins Ritz, wo Harold Carrington eine Dauersuite gemietet hat. Dem Portier tut der Anblick ihrer abgewetzten Schuhe leid.
»Ich laufe eben viel.«
»Keine Sorge, hier sind ein paar Francs, die setze ich Ihrem Vater auf die Rechnung. Wussten Sie, dass man lernt, den Duft der Kastanien zu erkennen, wenn man lange genug in Paris bleibt?«
Ihre Mutter rettet sie, kommt mit Bahnfahrkarten nach Paris, um mit ihr zu verreisen, wohin sie will.
»Es heißt, wer ein Rendezvous oder eine Reise nach Paris verpasst, der stirbt, ohne zu wissen, dass er gelebt hat«, ruft Maurie glücklich aus. Sie liebt das Reisen und weiß, dass ihre Tochter, wenn sie will, eine vorzügliche Begleiterin ist.
Maurie findet bei Leonora Harolds Wesenszüge wieder, auch sie übt Macht auf andere aus. Der Chef von Imperial Chemical Industries dirigiert die Welt, und Leonora bietet ihm die Stirn. Woher nimmt sie den Mut dazu?
»Dein Vater wird nicht schlau aus dir. Er wartet auf deine Einführung bei Hofe und hofft, dass du dadurch zur Vernunft kommst.«
Bei den gemeinsamen Museumsbesuchen in Frankreich und Italien hat Maurie den Eindruck, zwei Reisen gleichzeitig zu unternehmen, eine traditionelle und eine spirituelle mit ihrer Tochter.
»Da, Mama, ein Brueghel. Mal sehen, was auf dem Schildchen steht, aber ich bin sicher, es ist einer.«
Maurie ist stolz, dass ihre Tochter alle Maler erkennt.
»Ich würde gern nach Deutschland reisen, um Brueghel und Hieronymus Bosch zu sehen. Auch Die drei Lebensalter und der Tod von Hans Baldung und die Ruine Eldena von Caspar David Friedrich.«
Stundenlang verharrt sie vor jedem Bild, betrachtet es ehrfürchtig, holt ihr Notizbüchlein heraus, zeichnet mit fliegender Feder, und nachdem sie das Museum widerwillig verlassen hat, setzt sie sich auf einen Brunnenrand, während ihre Mutter im Baedeker nachschaut, was sie am nächsten Tag besichtigen könnten. Leonora ist offen für alles, probiert Auberginen und Risotto, bestellt den Hauswein, lächelt und flirtet, mit dem Liftboy, dem Hotelmanager, dem hübschen Jungen, der sie zum Tanzen auffordert. Im Hotel stellen die Gäste ihre Schuhe vor die
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