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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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stürzt er ein.« Da löste sich von einem Baum ein Blatt, der Vogel erschrak und flog davon … und der Himmel stürzte nicht ein.
    »Wollen Sie mir damit sagen, ich solle aufhören, die Welt zu halten?«
    »Ja, Ihre Söhne fliegen jetzt allein. Starten Sie selbst zu einem neuen Flug mit neuen Flügeln.«
    Als der Lama nach Kanada reist, folgt Leonora ihm. Der Buddhismus befreit sie von ihren depressiven Zuständen. Die Worte des Gurus schenken ihr neue Lebenskraft:
    »Sie werden sich beruhigen und das Nirvana erreichen. Sie besitzen intuitive Weisheit.«
    Seelisch gestärkt bereitet Leonora in New York eine Ausstellung in der Iolas Gallery vor und eine weitere im Center for Inter-American Relations . Auch das Museum für moderne Kunst in Austin, Texas, lädt sie ein. Sie veröffentlicht Die Steintür , eine Erzählung, die sie vor langer Zeit verfasst hat, als Chiki ihr von seiner Kindheit erzählt und sie sich in ihn verliebt hat. In den folgenden Jahren waren Pablo, Chiki, Gaby, Kati, José, Remedios und Edward James ihre Welt. Das Liebesleben wurde schwierig, Renatos These – ›Die Ehe ist die Bürokratie der Liebe‹ – bewahrheitete sich, doch sie vermochte sich nicht rechtzeitig zu lösen. Gleichwohl ist es ihr gelungen, zwischen Liebe und Verlangen zu unterscheiden, und was Letzteres betrifft, kann sie sich nicht beklagen: Sie hat Leidenschaften geweckt und sie fast alle erwidert, wohl wissend, dass unbefriedigtes Verlangen den Körper verbrennt und ein Leben als Aschehaufen kein Leben ist.
    Wenn sie nicht malt oder ausstellt, geht sie in ihre Lieblingsbuchhandlung gleich um die Ecke, deren Inhaber sie mit freudiger Miene begrüßt. Wie ein Magier steht er inmitten seiner alten Bücher und alchemistischen Schriften, und als er ihr sagt, sie gleiche der alchemistischen Rose, erwidert Leonora, die alchemistische Rose, das sei für sie der Kohlkopf.
    »Der Kohlkopf?«, fragt der Inhaber verwundert.
    »Ja, natürlich, Kohlköpfe weinen, wenn man sie aus der Erde holt, und schreien, wenn man sie in kochendes Wasser legt, genau wie Forellen. Haben Sie mal gesehen, wie eine Forelle sich krümmt bei dem Versuch, ein letztes Mal nach Luft zu schnappen?«
    »Sie mit Ihrer Empfindsamkeit werden auf dieses Buch sicher gut aufpassen«, sagt der Buchhändler und schenkt ihr Spiegel der Alchemie von Roger Bacon. »Es ist 1533 in Lyon erschienen, eine französische Ausgabe.«
    Leonora ist tief gerührt.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt sie, »ich habe als Kind Französisch gelernt und in Frankreich Wein angebaut.«
    Einen Kohlkopf malen heißt, eine blaue alchemistische Rose malen, das blaue Gift, den Peyote. Sie stellt ihre Staffelei ans Fenster und zeichnet ihn langsam, als würde sie ihn genüsslich verzehren. Ihn in New York zu zeichnen ist eine Herausforderung. Schreiben und malen gleichen einander, beide Künste brauchen – genau wie die Musik – einen Empfänger. Wer ist hier in New York ihr Empfänger? Augenblicklich fällt Leonora das freundliche Gesicht des Buchhändlers ein, und nachmittags geht sie mit Baskerville abermals in seinen Laden. Als er sie kommen sieht, öffnet er ihr persönlich die Tür. Die Bücher wärmen die Wände, die Atmosphäre ist heimelig, Leonora zieht ihren Mantel aus.
    »Was macht die Malerei?«, fragt er.
    Womöglich wird er sie nicht verstehen, denkt Leonora, wir alle sind verschieden, nehmen die Dinge unterschiedlich wahr, ihm dies zu sagen hätte aber auch keinen Sinn. Wer ist er? Sie kennt nicht einmal seinen Namen. Unvermittelt fragt sie ihn danach und erfährt, dass er Deutschschweizer ist wie C. G. Jung, aus Basel kommt und Carl Hoffmann heißt.
    »Einmal hat ein Hund eine von mir modellierte Maske angebellt, das war die größte Ehre, die meiner Kunst je zuteilgeworden ist«, erzählt Leonora, und er lacht.
    Er lädt sie zum Essen ein, und sie nimmt an. Das Restaurant hat die gleiche sakrale und zugleich gemütliche Atmosphäre wie die Buchhandlung, und nach einem Glas Rotwein spricht Leonora über ihre feministischen Ansichten.
    »Ich kenne keine Religion, die die Frau nicht als geistig minderbemittelt, schmutzig und von geringerem Wert als der Mann betrachtet.«
    »Und doch dreht sich die gesamte Kultur um das weibliche Wesen, von dem es ja heißt, es sei die Krönung einer jeden Gattung. Nur der Homo sapiens ist eben nicht ganz so weise, wie er glaubt.«
    »Sie haben recht. Auch die Geheimnisse gehören uns Frauen.«
    Leonora kehrt zurück nach Mexiko. ›Die

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