Frau des Windes - Roman
darin ähnelst du mir.«
»Es macht mir auch nichts aus, ob ich schon mit zwanzig voller Runzeln bin, Papa, ich will doch nur zum Teich gehen, wenn ich Lust dazu habe, mit dem großen Fisch reden und auf Bäume klettern wie die Jungs.«
Harold Carrington sitzt auf seinem hohen Stuhl hinter dem Schreibtisch und betrachtet sie. ›Das ist meine Tochter‹, denkt er. ›Eine Carrington von den Haarspitzen bis in die Zehen.‹
Nach dem Essen, beim Kaffee, sagt Mademoiselle Varenne, die einzige Tochter der Familie Carrington habe dreimal so viel Energie wie ihre Brüder und sei nur schwer zu bändigen. Harold Carrington schaut von der Times auf und antwortet, Leonora solle ihre überschüssige Energie beim Reiten verbrauchen.
Black Bess, ihr Shetlandpony, will nie galoppieren. »Hü, Bessie, Hü!«, schreit Leonora, da galoppiert Black Bess plötzlich los, obwohl es vorher nicht einmal traben wollte. Nachts träumt Leonora, dass Black Bess trotz seiner Leibesfülle den Grand National gewinnt. Wäre das herrlich, wenn ihr molliges, sanftmütiges Pony Flying Fox überholen könnte, das Rennpferd ihres Großvaters, das noch nie einen Wettkampf verloren hat!
»Bitte schenk mir ein anderes Pferd, Papa, ich bin jetzt alt genug, Black Bess wird nie so galoppieren, wie ich es will.«
Ihre neue Stute heißt Winkie. Auf ihr lernt sie Springreiten. Eines Morgens scheut Winkie vor einem Hindernis, Leonora stürzt, und die Stute fällt auf sie.
»Dir ist zwar nichts passiert, aber womöglich ist Winkie nicht das richtige Reitpferd für dich.«
»Aber ich liebe Winkie über alles, Papa.«
Der Pferdepfleger verrät Maurie nicht, dass ihre Tochter die Stute nach Lust und Laune aus dem Stall holt und ohne Sattel reitet. Anfangs hat sie sich an der Mähne festgehalten, jetzt nicht mehr. »Wir sind eins«, sagt sie zu ihrer Mutter. Manchmal legt sie sich rücklings aufs Pferd, Kopf und Schultern auf der Kruppe des Tieres, und schaut in den Himmel. Ihre Mutter benutzt einen Damensattel. Wenn beide gemeinsam ausreiten, liebt Leonora sie immer wie ein Fohlen sein Muttertier. »Absatz tiefer«, korrigiert Maurie, »Heb dein Gesäß nicht aus dem Sattel.« Mutter und Tochter galoppieren los, und auf einmal, ohne ein Wort zu sagen, lenkt Leonora Winkie zum See und reitet hinein. Verblüfft bleibt ihre Mutter stehen. Am anderen Ufer kommen Leonora und die Stute inmitten laut aufspritzenden Wassers wieder an Land.
»Was sollte das denn? Jetzt bist du klatschnass.«
»Winkie schwimmt gern, und ich mag es einfach, wie sie ihre Beine unter Wasser bewegt.«
»Die übermütige Jungstute bist du, nicht sie. Warum machst du nur so verrückte Sachen?«
»Das ist nicht verrückt, das ist ein Experiment. Hast du nie Experimente gemacht, Mama?«
Leonora ist von Natur aus aufsässig, und beim Reiten fühlt sie sich frei wie ein Vogel. Auf Winkie ist Verlass, Winkie versteht sie am besten, ist ihre Komplizin. Auf ihrem Rücken geht es Leonora wie mit dem Porridge, sie erreicht die Mitte. Ihre Stute hat lange Knochen wie sie, eine glänzende Mähne wie die ihre, sie nimmt ihr die Angst vor den Erwachsenen, die immer so viel verlangen.
»Ich bin ein Pferd«, erzählt sie jedem, der es hören will.
Gerard versteht sie.
»Ja, zu unser aller Leidwesen. Nachts höre ich deine Hufe auf dem Fußboden, und einmal habe ich dich durchs Fenster galoppieren sehen. Nur gut, dass du das nicht wirklich kannst, sonst wärst du schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«
Leonora kommt zu spät zu Tisch.
»Entschuldigung, ein Pferd hat mich aufgehalten, es wollte mir seinen Schatz zeigen.«
»Pferde sprechen nicht«, sagt Harold Carrington.
»Mit Leonora schon«, verteidigt Gerard seine Schwester. »Ich habe gesehen, wie sie sie mit der Unterlippe an der Schulter stupsen und fragen, wie es ihr geht.«
»Schluss mit dem Unsinn!« Harold legt seine Gabel nieder.
An Jagdtagen werden die Hetzhunde im Zwinger unruhig. Sie bellen und kratzen und betteln mit ihren goldenen Augen darum, dass man sie freilässt. Nass und mit hängender Zunge kehren sie zurück und übersäen den Fußboden mit weißen Speichelblasen. Ihr Lärmen und Toben füllt das Haus mit Leben, bis der Hundepfleger kommt und sie wieder einsperrt. So wie die Pferde ihren Stallburschen haben, haben die Foxhounds ihren Hundepfleger, der auf jede von Leonoras Fragen eine Antwort weiß. Was fressen sie? Wann werden die Jungen geboren? Wie werden sie entfloht? Die Hunde umringen ihn, wie die Jäger
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