Frau des Windes - Roman
Gegensatz zu den anderen gehorcht Leonora nur zögernd, als wäre sie stets zerstreut. Plötzlich, wenn die anderen schon fertig sind, spricht sie ihre Gebete mit hohler Stimme, und ihr Amen hallt zwischen den Kirchenfenstern wider. In was für einer Welt lebt sie? Unversehens platzt sie mit wunderlichen Sätzen in die Stille. »Gerade sind neunundneunzig Pferde als Schafe verkleidet in die Kapelle gekommen«, verkündet sie. »Lasst uns Hirtinnen spielen …«
Die Mutter Oberin vermeidet es, ihr zu begegnen. Ungreifbar, leicht und flüchtig wie ein Geist, hört man sie nie kommen. Schwester Teresa sieht sie in den Garten laufen, in der Kapelle niederknien und würde sie am liebsten verschwinden lassen. Wenn die Nonne im Refektorium den Mädchen aus dem Leben Christi vorliest, lässt Leonora sie nicht aus den Augen, vergisst zu essen oder unterbricht sie mit merkwürdigen Fragen: »War Christus ein Mensch oder ein Kreuz?«
»Weg mit ihr! Ihre Eltern haben sie ins Kloster geschickt, damit sie eine andere wird. Aber wie soll das bei einem dermaßen überspannten Kind denn gehen?«
Auch ihre Mitschülerinnen mögen sie nicht, sie ist eine Außenseiterin, sie versteht nicht, was es heißt, zur Oberschicht zu gehören, und warum sie in diesem britischen Kloster zur Schule geht, das nur privilegierte Mädchen besuchen. Sie beteiligt sich nicht an den Gemeinschaftsaufgaben und will in den Pausen nicht spielen. Eine Mitschülerin beteuert, Leonora führe Selbstgespräche. Vor ihrem ungestümen Wesen weichen die anderen zurück. Ihre Augen sind zwei schwarze Stiere kurz vor dem Angriff. Sie sagt merkwürdige Dinge und versteckt sich, um Tiere mit Menschengesichtern in ein Heft zu zeichnen. Die Augen ihrer Pferde und Wildschweine färbt sie mit ihrem eigenen Blut, und eines Tages behauptet sie, sie fürchte weder Hexen noch Geister. »Leonora ist mit dem Teufel im Bunde.« Im Kloster wird mehr vom Teufel geredet als von Jesus.
Im siebzehnten Jahrhundert gab es in Lancashire Hexen, die wurden mitten auf dem Dorfplatz auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Über allem lag eine düstere Rußschicht, und die neolithischen Steine bezeugten die heidnische Vergangenheit. Von ihrem Turm aus verwandelten mit Beelzebub vermählte Zauberinnen die Menschen in Schweine oder Wölfe. Uralte Steinräder lagen in der Landschaft, manche mit Hieroglyphen versehen, und Schriften belegen, dass zwölf der Hexerei beschuldigte Personen in Pendle Hill erhängt wurden. Noch heute überragen die Umrisse eines finsteren Turms die Grafschaft, und man erzählt sich, Schreie und Wehklagen drängen aus den Kerkern, in denen die Gefangenen einst ihrer Hinrichtung harrten.
Die Nonnen in ihrer geschlossenen Welt sind die Bräute Gottes oder Jesu oder des Heiligen Geistes oder wenigstens des heiligen Joseph. Wie Besessene leben sie in ihrer Klausur. Morgens beim Aufwachen haben sie schwarze Ringe unter den Augen. Sie essen das Gleiche wie die Mädchen, das weiß Leonora, denn sie hat gesehen, dass die Pfortenschwester ein Fädchen Spinat zwischen den Zähnen hatte. Manchmal rutscht ihnen eine Locke aus der Haube. Sie haben also Haare? Beim Angelusläuten riechen sie nach Schweiß. Ihre emsigen Finger tragen Nägel mit schwarzen Rändern. Wie wohl ihre Zehennägel aussehen? Misstrauisch geht Leonora ihnen aus dem Weg, genau wie ihren Klassenkameradinnen. Die Sidhe mag sie viel lieber. Die sind frech und winzig, und ihre Komplizin Leonora rät ihnen, mit den Rosenkranzperlen der Schwestern zu spielen, sie am Schleier zu zupfen oder ihre Schnürsenkel zu lösen. Morgen beim Frühstück sollen sie ihnen Salz in die Marmelade streuen.
»Die Mutter Oberin stinkt nach Ziege.«
»Der Teufel ist ja auch ein schwarzer Ziegenbock.«
Leonora wäre gern mit einem anderen ungezogenen Mädchen befreundet, aber sie findet keines.
»Ruhe!«
Ruhe ist die Mutter der Selbstbetrachtung. Oder des Traums.
Während der Andacht schlafen viele wie Kühe.
Was aus dem Rahmen fällt, beunruhigt. Leonora kann mit beiden Händen schreiben und mit der linken Hand auch rückwärts. Früher hat die Gouvernante versucht, ihr die Hand festzubinden. Sie benutzt beide Gehirnhälften, sie nimmt den Bleistift in die Rechte und zeichnet, dann in die Linke, mit der es sogar noch besser geht. Als sie noch klein war, hat Nanny zu ihr gesagt: »So etwas können nur sehr wenige Menschen, das ist eine besondere Gabe, und du schreibst nicht ungeschickt oder verzittert, du vertust dich nie.« Die
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