Frau des Windes - Roman
nervöser Tick, ich weiß –, aber oft ist sie wirklich neben der Spur.«
»Sie redet hektisch und wirkt sehr unsicher«, ergänzt Marcel Duchamp.
»So unsicher nun auch wieder nicht. Max weicht nicht eine Sekunde von ihrer Seite«, wendet Herbert Read ein.
»Das hat aber auch mit der Irrenanstalt zu tun«, entgegnet Marcel. »Max fühlt sich für sie verantwortlich.«
»Max liebt sie, das sieht doch ein Blinder«, ruft Kay.
»Sein Leben verdankt er aber Peggy, und ich glaube nicht, dass Max so blöd ist, zu glauben, eine Frau, die gerade aus dem Irrenhaus kommt, könne ihm nützlicher sein als Peggy«, wirft Laurence Vail ein.
»Der Wahnsinn raubt einem die eigene Persönlichkeit und macht einen anderen Menschen aus einem«, meint Herbert Read.
»Ihre Stimme und ihr Sprechrhythmus haben sich verändert, sie baut auch ihre Sätze anders. Ihre Art zu reden ist irgendwie sehr zäh geworden. Darüber haben Herbert und ich uns gestern Abend unterhalten«, sagt Laurence.
»Auf jeden Fall vertraut sie dem Mexikaner, das ist sonnenklar«, bemerkt Kay Boyle.
»Dem Mexikaner vertraut sie? Der Mann hat doch nichts mit ihr gemein«, entgegnet Duchamp.
»Etwas muss aber an ihm dran sein, wenn sie mit ihm schläft.«
Eines Morgens, nachdem Renato sich verabschiedet hat, läuft Leonora allein durch die Stadt. Plötzlich sieht sie eine hohe Gestalt auf sich zukommen, die sie überschwänglich begrüßt:
»Gestatten Sie mir, Sie ein Stück zu begleiten?«
Es ist Herbert Read.
»Wir haben uns in London kennengelernt, aber damals hatten Sie nur Augen für Ernst. Sagen Sie, Leonora, wenn Sie einen Menschen kennenlernen, was ist Ihnen da auf Anhieb am wichtigsten?«
»Ich würde sagen, das Talent, eine nicht alltägliche Stimme.«
»Und Skandale würden Sie nicht stören?«
»Nein. Immer noch besser Peggy Guggenheim und ihr ganzes Gefolge mitsamt ihrem Faible für Skandale als die Biederkeit des britischen Empire!«
Read ist davon überzeugt, dass die Gesellschaft den Künstler nie verstehen werde, diesen ›Egoisten ersten Ranges‹, der dazu verdammt sei, die zu lieben, die ihn zurückweisen. Kunst habe nichts mit rechts oder links zu tun, mit Kommunisten oder Kapitalisten, und selbst wenn die Politiker den Künstler zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, könnten sie ihn niemals erschaffen, unterwerfen oder vernichten.
Während sie gemeinsam durch die Straßen schlendern, sagt Read, viele Surrealisten würden von der Natur inspiriert und suchten in ihr nach neuen Formen, zum Beispiel Ernst in seinen Wäldern. Deshalb würden sie sich so eingehend mit dem Aufbau von Mineralien und Pflanzen, mit Biologie und Geometrie befassen. Max sei ein kluger Mann, interessiere sich leidenschaftlich für Astronomie und erforsche die Dinge durch und durch, um seiner Malerei etwas Lebendiges, Universelles zu verleihen.
»Also bezieht der Surrealismus seine Inspiration aus der Natur?«, fragt Leonora.
»Auf jeden Fall. Tanguy hat mir einmal erzählt, dass er, wenn er am Strand spazieren geht, dort oft winzige Meerestiere entdeckt, die anschließend seine Phantasie stimulieren. Und Sie, woher beziehen Sie Ihre Inspiration?«
»Das kann ich nicht erklären, es ist etwas Körperliches wie Essen, Schlafen, Sex.«
»Und die Natur?«
»Die Natur liegt außerhalb meiner selbst. Meine Malerei ist hier drinnen«, sagt sie und legt die Hände auf ihren Bauch.
»Werden Sie mit Max zusammenbleiben?«, fragt er sie wie ein älterer Bruder.
Leonora versichert ihm, sie habe mit Ernst Schluss gemacht, fühle sich jedoch verwirrt.
»Mir kommt das alles vor wie die Komödie der Irrungen«, erwidert Read.
»Sie haben recht. Peggy ist eifersüchtig auf mich und Max auf Renato. Das Ganze ist ein absurdes Theaterstück, eine wahre Operette.«
»Das Leben selbst ist ein surrealistisches Abenteuer.«
Herbert Read zieht über die bürgerlichen Werte der britischen Gesellschaft her. Schon als junger Mann hat er sich über die Freizeitbeschäftigungen der Oberschicht, über gesellschaftliche Verhaltensregeln und die große Bedeutung von Titeln und Ehrungen lustig gemacht.
Andächtig lauscht Leonora ihm. In ihren Augen ist er ein großartiger Mensch, zu dem sie am liebsten sagen würde: »Meine Mutter hat mir Ihr Buch mit Max’ Gemälde auf dem Umschlag geschenkt, und ich fände es wundervoll, mit Ihnen befreundet zu sein.«
Von all denen, die Peggy wie die Motten umschwirren, ist die Schriftstellerin Kay Boyle mit ihrer liebenswürdigen, besonnenen
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