Frau Ella
Fahrrad gefallen war. Das war doch nicht gerecht, dachte er. Und dann war plötzlich Ute neben ihm.
»Hey, Sascha, reiß dich zusammen!«, flüsterte sie. »Frau Ella hat gleich Geburtstag.«
»Was?«, schreckte er auf, wunderte sich über all die Gläser, die gleich vor seinem Auge standen, den Druck auf seinem Ohr, versuchte die seltsame weiße Fläche einzuordnen, die sich von seinem Gesicht aus in die Ferne zog. Dann aber begriff er, zunächst ungläubig, schließlich aber mit einem ungeahnten Glücksgefühl, dass er geträumt hatte und mit dem Kopf auf der Tischdecke lag.
»Klaus hat das organisiert«, redete Ute weiter, leise an seinem Ohr, ruhig, als sei das alles ganz normal. »Der Spinner hat die Leute alle mit dem Wagen abgeholt, während wir hier gewartet haben. Er meint, Frau Ella hat morgen Geburtstag. Achtundachtzig. Das wird gleich gefeiert.«
»Und ich?«
»Was du?«
»Ich bin raus?«
»Wo raus?«
»Egal«, sagte er schnell, da er trotz all der Biere langsam zu sich kam und sie alle zusammen am Tisch sitzen sah. Buvardo mit seinem Typen, der Blumenhändler, Herr Li senior, der tatsächlich eine Art Tropenanzug aus grobem Leinen trug, ein Riese mit entsprechendem Schnurrbart, den Sascha noch nie gesehen hatte, Ute und Frau Ella. Und alle grinsten sie ihn an, als habe er etwas angestellt, was gerade noch einmal gutgegangen war. Als wüssten sie genau, was er geträumt hatte.
Dann verstummte das Orchester. Die Scheinwerfer wurden gedimmt. Die Menge kam langsam zur Ruhe. Der Sänger trat ins Scheinwerferlicht, fast wie in seinem Traum.
»Liebes Publikum«, setzte er diesmal wirklich an. »Es gibt Dinge, die gehören nicht zusammen, die sollen nicht zusammenwachsen. Und wenn wir, die frivolen Zeitlosen, Geburtstage feiern, dann ist das so ein Ding, dann ist das inkonsequent. Nur, was ist die Zeit, wenn nicht die stärkste Waffe der Konsequenz, die immer eins auf das andere folgen lässt, als gebe es irgendeinen Grund dafür? Es ist doch gerade diese Konsequenz, die es uns so schwermacht, einfach zu sein, und die wir deshalb bekämpfen, deren Macht wir brechen müssen. In uns allen. Deshalb feiern wir die Zeit, lachen ihr ins Gesicht, setzen ihr immer wieder ein fröhliches Trotzdem entgegen, gegen das sie, diese humorlose, frigide Despotin, machtlos ist. Das heißt, gerade weil wir Geburtstage feiern, obwohl sie uns nichts bedeuten, sind wir die Zeitlosen.«
Das Publikum lauschte gespannt. Nur hier und da wurde gemurmelt, da nicht jeder zu begreifen schien, was er von dieser Rede halten sollte. Auch Sascha war sich da alles andere als sicher. Ernst und Unterhaltung waren hier wohl nicht ganz klar voneinander zu trennen.
»Deswegen, liebe Freundinnen und Freunde«, fuhr der Sänger jetzt lockerer, in Manier eines Boxpromoters fort. »Deswegen gratulieren wir auch heute: Susi zum Zweiunddreißigsten, Wolf zum Neunundvierzigsten und, als unangefochtener Siegerin, als Königin der Zeitlosen, Ella zum Achtundachtzigsten.«
Ute hatte also recht gehabt. Klaus hatte eine Geburtstagsparty organisiert. Und plötzlich aufbrausend tuschte das Orchester wie entfesselt, die Menge johlte mit einem Mal, ja, wie befreit. Der Sänger dirigierte einen Tusch nach dem anderen. Und noch einen. Und noch einen. Frau Ella zeigt Klaus lachend einen Vogel. Hatte sie denn wirklich Geburtstag? Machte das einen Unterschied?
Dann wurde es nach und nach still, vollkommen still, als bliebe die Zeit tatsächlich stehen, für einen Moment, als sei das wirklich möglich, als sei das unerheblich. Der Sänger räusperte sich. Nach einem weiteren langen Moment bewegungsloser Ruhe ließ er sich den Ton geben, holte ein letztes Mal Luft und begann schließlich zu singen.
Jeder, der heut’ achtundachtzig Jahr’
Vor achtundfünfzig Jahr’ dreißig war...
Das Orchester setzte ein zum langsamen Walzer, und Sascha wollte aufstehen und mit Frau Ella tanzen und diesen Traum hinter sich lassen und diesen Moment auskosten, ohne zu denken. Da sah er, wie Herr Li sich Frau Ella näherte, ihr den Arm reichte und sie auf die Tanzfläche führte. Die beiden verschwanden im Getümmel, und Sascha wusste, dass Frau Ella lächelte.
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