Frau Ella
um Hilfe bat? Aber die hatten schon so viel für sie getan. Sie sollten jetzt wieder ihr eigenes Leben haben. Nur hatte sie doch sonst niemanden. Außer diesem Bauern. Und dem Mädchen. Und selbst Saschas Adresse kannte sie nicht. Sie hatte alles vergessen, als hätten diese ganzen Erinnerungen an früher die wichtigen Dinge von heute verdrängt. Ihre eigene Adresse, der Name des Krankenhauses, der Nachname des jungen Mannes, alles war weg. Sie fühlte sich ganz normal, und doch schien sie durcheinander zu sein. Sie wusste schon wieder nicht, was mit ihr los war. Da konnte ihr auch dieser Bauer nicht helfen, der sie gefragt hatte, wo sie denn herkäme, ob er nichts weiter für sie tun könne.
Sie solle sich einfach ausruhen, hatte er ihr gesagt, die Erinnerungen würden schon wiederkommen, sie könne bleiben, so lange sie wolle. Dann war sie wohl eingeschlafen. Aber auch das hatte nicht geholfen. Dabei erinnerte sie sich an jedes Detail der Wohnung, in der sie die letzten Tage verbracht hatte, sah auch die schmutzig graue Fassade des Hauses, das asiatische Restaurant und den Laden von Herrn Li. Aber wo sollte das gewesen sein? Es kam ihr eher so vor, als hätte sie schon wieder geträumt. Sie konnte kaum glauben, das alles wirklich erlebt zu haben.
Von draußen drang jetzt das Stottern eines alten Motors in die Hütte. War sie schon wieder eingenickt? Anscheinend fuhr ein Auto vor. Dann hörte sie die Stimme des Bauern, der dem Mädchen etwas zurief, sich lachend mit ihr unterhielt. Die Stimme kam näher, die Tür öffnete sich leise quietschend, und schließlich war da der Kopf des Bauern, dahinter die strahlende Abendsonne.
»Hallo, Madame. Haben Sie genug geruht?«
»Wie spät ist es denn?«
»Wir haben schon zugemacht und die Tiere versorgt. Sie haben den ganzen Tag geschlafen. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie jetzt nach Hause. Wenn Sie wissen, wo das ist?«
Sie schüttelte den Kopf, sah ihn schweigend an, als könnte er ihr vielleicht doch helfen, auch wenn sie nicht wusste, wie.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, der all das nicht so ernst zu nehmen schien. »Wir finden ihr Zuhause schon noch. Vielleicht wollen Sie erst noch einen Kaffee trinken?«
»Gerne. Sehr gerne. Und wissen Sie, in dem Haus, in dem der junge Mann wohnt, der mich gerettet hat, da sind zwei asiatische Geschäfte, ein Restaurant und ein Laden mit allem möglichen Kram, sogar Brötchen. Der Besitzer heißt Herr Li.«
»Der Name ist bestimmt nicht selten«, murmelte er, während er sich wieder an seinem kleinen Kupfertopf zu schaffen machte. »Aber zwei Chinesen in einem Haus, das finden wir bestimmt.«
»Einer war so ein Vietnamese.«
»Auch gut. Sehr international diese Stadt, nicht wahr? Alles ein bisschen durcheinander. Wo ich herkomme, gibt es gar keine Ausländer. Da kennt jeder jeden sein ganzes Leben lang.«
»Bei mir zu Hause war das genauso. Früher einmal.«
»Ja, ja, die gute alte Zeit, nicht wahr, Madame?«
Sie hatte Hunger, und sie brauchte eine Toilette. Es war ein Fehler gewesen, noch einen Kaffee zu trinken, doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Der Bauer hatte ihr eine Militärjacke um die Schultern gelegt, ein muffiges altes Ding, das sie aber immerhin warm hielt. Sie hatte das erst nicht für nötig gehalten, aber es war doch wieder kühl geworden, seit die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war, und eine Heizung schien das Auto nicht zu haben.
»Fahren wir jetzt zu deiner Familie?«, fragte das Mädchen von hinten.
»Das wäre schön. Aber eine richtige Familie ist das nicht, wenn wir sie überhaupt finden.«
»Hast du auch Ärger zu Hause?«
»Das könnte man so sagen«, musste sie lächeln. Dieses Kind sah die Dinge einfach so, wie sie waren.
»Sei nicht so neugierig, Bobulina«, hörte Frau Ella den Bauern neben sich sagen.
Sie fuhren im Schritttempo durch den Park, vorbei an vollbepackten Familien, die den Tag draußen verbracht hatten. Ganz schwarz wie Scherenschnitte bewegten sie sich vor diesem blau und rosa strahlenden Abendhimmel entlang. Manche schimpften, wenn der Bauer hupte, damit sie Platz machten. Dann bogen sie endlich auf eine richtige Straße. Die Häuser sahen alle genauso aus wie das, in dem Sascha wohnte. Eins nach dem anderen, ohne dass ein Ende in Sicht war. Wie sollte man da das richtige finden? Es war aussichtslos, doch sie durfte nicht verzweifeln und auf keinen Fall die Kontrolle über ihren Darm verlieren. Alles andere war nicht so wichtig.
Nach wenigen
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