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Frau Ella

Frau Ella

Titel: Frau Ella Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Beckerhoff
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der darin schwamm, reichten aus, um sie skeptisch zu stimmen.
    »Das ist der Saft der Weisheit«, sagte er. »Nicht vietnamesisch, sondern aus den Bergen von Laos.«
    »Was ist denn das für ein Wurm?«
    »Das ist die Quelle der Weisheit. Sehr alte Schlangen, die auf Bäumen leben und alles sehen, von außen und oben. Wenn sie sterben, fallen sie von ihrem Baum. Dann kommen sie in die Flasche mit ihrer ganzen Weisheit. So geht keine Erfahrung verloren, alles wird weitergegeben, die Weisheit bleibt erhalten, so dreht sich das Rad des Lebens. Hier nehmen Sie, bitte.«
    »Glauben Sie wirklich, ich brauche das in meinem Alter noch?«
    »Die Weisheit, sagen die Schlangen, kennt keine Dämmerung«, lächelte er und reichte ihr eines der beiden Gläser, randvoll gefüllt mit dieser goldenen Weisheit.
    »Ich habe gerade eher das Gefühl, immer weniger zu verstehen.«
    »Sehen Sie! So ist das.«
    »Entschuldigung?«
    »Die Weisheit, sie ist wie die Sonne. Ohne sie gibt es keinen Schatten. Sie sehen viel Schatten, weil Sie weise sind. Junge Menschen verstehen alles, weil sie nichts verstehen, verstehen Sie?«
    »Aha«, sagte sie und musste beim Gedanken an das Mädchen lächeln.
    »Wo dieses Getränk herkommt, sind auch die alten Menschen heilig, wie die Schlangen. Denn sie sind das Ziel des Lebens, aus dem neues Leben wird. Hier haben die Menschen das vergessen. Sie denken nur an sich und das Vergnügen im Moment und sehen nicht, dass das Ende immer dazugehört, auch wenn es ihnen noch nicht geschehen ist, denn es ist schon viele Tausende Mal geschehen. Wenn der Läufer zu schnell beginnt, ist sein frühes Scheitern schon Teil seines schönen Laufes. Nur weil die Menschen hier nicht mehr die Einheit des Laufes sehen, leben sie so. Sie denken, das ist eine andere Person, die hat mit mir nichts zu tun, sie ist jemand anderes, aber sie haben unrecht, weil alles zusammengehört. Wenn dein Nachbar leidet, ist das dein Leiden, sagt man. In jedem anderen Menschen kannst du deine Vergangenheit und deine Zukunft sehen, deswegen musst du alle sehen wie dich selbst. Das ist die Lehre des Getränks der Weisheit.«
    Es schmeckte immerhin nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte, und auch wenn sie ihm nicht ganz hatte folgen können, beruhigte sie seine Stimme, sanft und mit ihrem immer ein bisschen amüsiert klingenden Akzent. Er sprach viel besser Deutsch als sein Sohn, vielleicht ja dank seines Schlangengetränks. Sie spürte die Wirkung sofort. Nicht, dass sie sich jetzt plötzlich besonders weise fühlte, aber eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Wie konnte sie schon wieder müde werden, nachdem sie den ganzen Tag verschlafen hatte? Sie war zu träge, etwas zu sagen, als sie sah, wie er ihr nachschenkte, fühlte, wie er kurz ihre Hand griff und drückte. Dann hörte sie die Klingel im Laden. Er stand auf, drehte sich an der Tür angekommen noch einmal zu ihr um und sah sie wieder mit diesem entschuldigenden Blick an. Und mit diesen glänzenden Augen, wie ein kleiner Junge, der sich freute. Sie lächelte zurück, sah dann weg und beugte sich vor, um einen Blick in den Reiskocher zu werfen. Wenn sie sich nicht täuschte, konnten sie bald essen. Sie wollte den Tisch decken, doch konnte sie sich hier unmöglich zurechtfinden. Also hob sie ihr Glas und prostete der Schlange in ihrer Flasche zu.
    »Auf die Weisheit. Wo auch immer das mit mir einmal enden wird.«
    Die Schlange lächelte und schwieg.

20

    DAS WAR GANZ EINFACH ein Einbruch, auch wenn sie den Schlüssel benutzt hatten. Anstatt wiedergutzumachen, was er angerichtet hatte, machte er alles noch schlimmer. Auch wenn eigentlich nicht er schuld war, sondern dieser Pfleger. Was brachte ihm so eine billige Entschuldigung? Nichts. Natürlich war es keine ganz abwegige Idee gewesen, zu ihrer Wohnung zu fahren, um nachzusehen, ob sie nicht doch vor der eigenen Tür saß, vielleicht mit Hilfe irgendeines Hausmeisters oder Nachbarn sogar hineingefunden hatte. Doch warum war er dann in die Wohnung gegangen? Er hatte einfach sehen wollen, wie sie wirklich lebte. Er wollte wissen, wer Frau Ella war.
    Über einen grüßenden Fußabtreter ging es ins Halbdunkel eines kleinen Flures. Ein Bad, eine Küche, ein kleines Schlafzimmer und schließlich das Wohnzimmer. Auch hier war kaum etwas zu erkennen, da die Vorhänge zugezogen waren. Sascha suchte und fand den Lichtschalter, sah sich plötzlich einer gigantischen Schrankwand gegenüber, die mit ihrer ganzen bedrohlichen Ruhe die Wohnung

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