Frau Ella
dass er sie wirklich zurück zu diesen Kerlen bringen wollte. Nach allem, was sie ihm erzählt hatte. Nach allem, was er gesagt hatte über die Jungen und die Alten. Wie Vieh sollte sie freiwillig zu ihrem Schlachter. Nur konnte sie ja auch nicht einfach hierbleiben. Die beiden mussten ihr einfach helfen.
»Daran glauben Sie auch«, lachte Herr Li, schon auf dem Weg zur Ladentür. Was blieb ihr anderes übrig, als die Tüte zu nehmen und ihm zu folgen?
»Ja«, krächzte eine fremde Stimme im Lautsprecher der Gegensprechanlage, und es klang nicht glücklich. Kein Wunder, wenn sie so gesoffen hatten. Herr Li sah sie aufmunternd an. Doch selbst wenn sie gewollt hätte, wenn da ein Funken Hoffnung gewesen wäre, sie konnte keinen Ton über die Lippen bringen.
»Hey, jetzt bitte nicht einfach wecken und nichts sagen, verdammte Scheiße!«, fluchte die Stimme. »Das darf nicht wahr sein.«
Herr Li räusperte sich laut.
»Hallo da unten? Ist das so ein Werbearsch, oder was?«
»Hier spricht Herr Li, aus dem Geschäft. Ich bringe Ihnen Ihre Freundin zurück.«
Jetzt war nur noch das Rauschen des Lautsprechers zu hören.
»Lina?«
»Die andere. Die ältere.«
Der Lautsprecher verstummte. Kein Rauschen mehr. Vorbei. Er hielt die Taste nicht mehr gedrückt, stolperte zurück ins Bett, froh, dass sie vor der Tür stand und nicht bereits in der Wohnung. Seiner Wohnung. Genau so, wie sie es vorausgesagt hatte. Er hatte mehr als genug von ihr. Sie hatte alles zerstört mit ihrer lächerlichen Flucht. Herr Li lächelte ihr traurig mit den Schultern zuckend und doch noch immer lächelnd zu, als wäre all das nicht so wichtig. Er hatte gut lächeln mit seinem Anzug, seinem Laden, seiner Familie, seiner komischen Philosophie. Und sie? Was machte sie hier überhaupt im Nachthemd auf der Straße, die zum Glück noch ganz ruhig war? Wenige Männer und Frauen zogen mit Taschen und Körben vorbei, um die Wochenendeinkäufe zu erledigen. Es war Samstag. Die Sonne schien. Ein schöner Tag für Menschen, die ein normales Leben hatten.
Da hörte Frau Ella hinter sich ein dumpfes Poltern, das immer lauter wurde. Sie sah Herrn Li fragend an, der lächelnd auf die Haustür blickte, als habe die ihm gerade etwas besonders Nettes gesagt. Da flog sie plötzlich nach hinten weg, die Haustür, und vor ihnen stand, sie erkannte ihn erst nach kurzem Zögern, dieser Junge, Sascha, vollkommen zerzaust, das Pflaster am Auge halb abgerissen, die dicke Brille schräg auf der Nase, in Unterwäsche, und starrte sie an. Ungläubig. Schockiert. Er keuchte und zitterte vor Angst. Wie ein gejagtes Tier. Sie verlor kurz das Gleichgewicht, wandte sich ängstlich ab, und sah Herrn Li nur noch von hinten, wie er zurück in seinen Laden ging. Er ließ sie alleine mit diesem versoffenen Landstreicher, dem sie eine solche Angst einjagte. Vor dem sie sich ekelte, so unerträglich stank er, ungewaschen, nach Zigaretten und Alkohol. Sie hatte hier nichts verloren. Und dennoch starrte sie ihn wieder an. Starrten sie einander an. Sein gesundes Auge war ganz rot, hatte nichts mehr von dieser goldbraunen Wärme, die sie so gemocht hatte. Es war verloschen. Alle Herzlichkeit dahin. Tagelang hatte sie bei diesem Menschen gewohnt. Das war nicht der Sascha, den sie kennengelernt hatte. Es war nicht zu fassen.
»Wollen«, flüsterte er plötzlich so leise, dass sie ihn nur verstand, weil sie auf seine trockenen, aufgeplatzten Lippen starrte. Er sprach nicht weiter, als habe er die Stimme verloren, und starrte sie dabei wie wahnsinnig an. Sein Mundgeruch war unerträglich. Sie sollte gehen. Irgendwohin. Nur nicht hierbleiben. »Wollen Sie vielleicht einen Kaffee?«
Sie musste sich geirrt haben. Sie hörte schlecht. Sie hatte von seinen Lippen gelesen, was sie hatte hören wollen. Es war höchste Zeit zu gehen. Es wurde immer peinlicher. Nachher fing sie noch an zu weinen. Mitten auf der Straße.
»Einen Kaffee?«, schrie er plötzlich, und sie fuhr zusammen, wusste nicht, was sie jetzt tun sollte, fühlte sich dem nicht gewachsen. Und doch nickte sie und versuchte zu lächeln, anstatt wegzurennen. Einfach so. Sie wusste nicht, wie sie dazu kam. Da drehte er sich um und hielt ihr den Arm so hin, dass sie sich unterhaken konnte. Sie zögerte, sah sich dann einen Schritt nach vorne machen, ihren linken Arm ausstrecken. Sie hakte sich wirklich bei ihm unter, versuchte, den großen Schweißfleck unter seiner Achsel nicht zu berühren. Dann machten sie sich gemeinsam an den
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