Frau Ella
Ella, nicht im Geringsten aus dem Konzept gebracht durch den seltsamen Auftritt des Kellners.
»Für mich ein Wasser, bitte«, rief Ute ihm hinterher, aber so schnell, wie er davoneilte, konnte man unmöglich sagen, ob er sie gehört hatte.
»Sag mal, kanntest du diesen Laden schon? Weißt du, was Klaus vorhat?«, fragte Sascha Ute.
»Keine Ahnung«, zuckte sie mit den Schultern. »Ich kapier sowieso nicht mehr, was mit euch los ist.«
»Wir werden erwachsen. Da ruht man dann eher in sich. Die Umwelt verliert an Bedeutung.«
»Na dann.«
»Wie bitte?«, meldete sich Frau Ella.
»Er wird erwachsen«, rief Ute.
»Wirklich?«, fragte Frau Ella und musterte ihn mit ihrem fröhlich glänzenden Auge. Sie schien noch ihre Zweifel zu haben. »Umso wichtiger, dass er ordentlich isst.«
»Hast du denn eine Ahnung, wo Klaus jetzt hin ist?«, fragte er Ute.
»Mann, Sascha, Klaus war seit gestern früh nicht mehr zu Hause, sondern, wenn ich das richtig verstehe, mit dir zusammen auf der Suche nach Frau Ella. Was fragst du da mich, wo er sich jetzt herumtreibt?«
»Sicherlich hat er auch jetzt wieder Wichtiges zu tun«, sagte Frau Ella.
Es war wohl zu befürchten, dass Klaus etwas ausheckte, und plötzlich sah er sich im Kerzenschein auf dem Sofa sitzen und Klaus seine Liebe zu Frau Ella gestehen. War das denn möglich, dass der ihn ernst genommen hatte, wie er da mit feuchten Augen seiner Sehnsucht freien Lauf gelassen hatte? Und jetzt wollte Klaus sein Leben in die Hand nehmen, ihm auf die Sprünge helfen! Es ging gar nicht mehr um Lina, es ging um Frau Ella. Klaus würde hier gleich auftauchen, einen Pfarrer im Schlepptau, um ihre Verlobung oder Hochzeit zu feiern. Deswegen dieser nostalgische Kitsch. Das
Orchester, das nach und nach auf der Bühne zusammenfand, würde zum Hochzeitswalzer aufspielen. Das war natürlich Unsinn, aber irgendetwas, das spürte er, irgendetwas würde passieren.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, hörte er Frau Ella fragen.
Er sah in ihre Richtung und versuchte zu lächeln.
»Doch doch. Ein bisschen Hunger habe ich.«
»Das Essen kommt gleich, dann geht es Ihnen besser.«
Der Saal füllte sich langsam mit einer seltsamen Mischung aus Gästen aller Altersklassen und Epochen. Halbnackte Mädchen in glänzenden Lederimitaten, schnurrbärtige Männer mit schurwollenen Sakkos, Herren in Smoking, Frack und sogar mit Zylinder, Damen in Abendgarderobe, Diademe glitzernd über der Stirn, Studenten in Uniform, Armee und Verbindung, Punker mit Hunden, Stenze in weißem Anzug und passenden Slippern an der Seite von Frauen in verwaschenen Strickjäckchen, Nadelgestreifte mit gigantischen Uhren an den Handgelenken, Glatzköpfe mit metallenen Verzierungen, Frauen mittleren Alters in Minirock mit bis zu den Knien reichenden Sportsocken an der Seite von durchtrainierten Männern mit grauen Schläfen und silbern glänzenden Turnschuhen. Nur die Kellner und das Orchester verliehen dem Ganzen mit ihrem strengen Schwarz und Weiß ein Mindestmaß an Kontur, an Wirklichkeit.
Das rauschende Ploppen eines getesteten Mikrofons unterbrach seine Beobachtungen. Vor ihm stand mittlerweile ein Teller. Kartoffeln, Klopse, Kapernsoße, Salatgarnitur. Den Kellner hatte er gar nicht bemerkt. Er sah auf. Ute und Frau Ella lächelten ihm aufmunternd zu.
»Meine Damen und Herren«, hörte er da verstärkt durch die Lautsprecher, sah einen Mann mit streng briskiertem Haar vor dem Orchester stehen. »Caruso Kasuppke und die frivolen Zeitlosen heißen Sie herzlich willkommen in Baker’s Ballhof. Verbringen Sie mit uns diese Nacht extremer Diesseitigkeit! Entfliehen Sie mit uns der Diktatur der Zeit! Erleben Sie das wahre Leben! Vor allem aber, verschonen Sie uns mit Musikwünschen! Vertrauen Sie uns! Sie riskieren nur, den Bezug zum Jetzt zu verlieren. Mehr Worte gibt es dazu nicht zu sagen. Deswegen jetzt sofort, traditionell die Ouvertüre mit Gruß an die Küche und an alle anderen, die noch im Speisen begriffen sind.«
Hätte Sascha den leisesten Zweifel daran gehabt, dass er wirklich in diesem Saal saß und dieser Begrüßung lauschte, hätte er das alles mühelos für einen Traum gehalten. Königsberger Klopse. Caruso Kasupp-ke. Frau Ella. Aber die Klöße dufteten wirklich, und auch die anderen Gäste wirkten zu überrascht amüsiert für einen Traum.
»Essen Sie, mein Junge«, sagte Frau Ella, und Sascha machte sich endlich daran, zum Rhythmus des einsetzenden Liedes seine Klopse zu kauen.
Und wennse dir gefällt,
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