Frau Holle ist tot
wollte er dich vergiften?«
Wieder durchlief ein Zittern Annikas schmächtigen
Körper.
Julia sprach begütigend und beruhigend auf sie ein.
»Sag nur, was du aushalten kannst.«
Sag endlich die Wahrheit und lass das Theater, wollte
Mayfeld dazwischenrufen, aber es war ihm klar, dass er das besser unterließ.
»Ich bin schuld an Hollers Tod«, sagte sie endlich
schluchzend. »Ich habe sie umgebracht.«
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Mayfeld kühl.
Zeitlich könnte es hinkommen. Erst hatte sie ihre
Therapeutin getötet und dann, aus Schuldgefühlen heraus, versucht, ihrem
eigenen Leben ein Ende zu setzen.
Annika beugte den Kopf, ihre schwarzen Locken fielen
über das Gesicht. Sie weinte leise vor sich hin.
»Ich habe sie umgebracht, ich habe sie umgebracht.«
Mayfeld wartete ab.
Annika schaute wieder hoch. Jetzt hatte sie plötzlich
wieder einen überlegenen und anmaßenden Gesichtsausdruck.
»Natürlich nicht direkt. Es war das Arschloch, nachdem
ich mit ihm geredet habe.«
Der Pflegevater als Auftragskiller? Annikas Aussagen
klangen in Mayfelds Ohren immer abstruser.
»Worüber hast du mit Mertens geredet?«
Wieder verbarg Annika das Gesicht hinter ihrer Mähne.
»Dr. Holler ist tot. Kevin ist tot. Ich hätte gewettet, dass ihr nirgendwo
einen Computer gefunden habt. Aber wenn du in meiner Akte rumgeschnüffelt hast,
kann das nicht sein. Holler hat da nämlich nach den Stunden immer was
hineingetippt.«
Für jemanden, der vorgab, verwirrt zu sein, dachte die
junge Frau ziemlich klar. Und woher wusste Annika, dass die beiden Computer
verschwunden waren? Das grenzte an Täterwissen.
»Wieso glaubst du, dass die Computer von Dr. Holler
und Kevin verschwunden sind?«
Annikas Gesichtsausdruck bekam etwas Abwesendes. »Es
ist so, dass sie hinter einem Video her sind, das Arschloch und die anderen.
Sie haben Dr. Holler und Kevin getötet. Frau Holler wollte das Jugendamt
vor Mertens warnen. Und jetzt sind sie hinter Marie und mir her. Weil sie nicht
wissen, wer von uns beiden das Video hat.«
»Marie Lachner?«
Annika nickte. »Sie rettet mir das Leben, und ich
bringe sie in Gefahr, indem ich ihr das verdammte Video zustecke. Was für eine
scheißundankbare blöde Kuh ich doch bin.«
»Was ist auf dem Video drauf?«
Wieder begann Annika zu zittern und zu wimmern.
Diesmal erreichte Julia sie nicht mehr. Annika sprang auf, wischte mit einer
Handbewegung den Teller mit den Essensresten vom Tisch und stürmte nach
draußen.
»Lass sie in Ruhe, ich kümmere mich um sie!«, brüllte
sein Vater und stürzte ihr hinterher.
Als Mayfeld ihnen folgen wollte, legte Julia ihre Hand
auf seinen Arm.
»Lass sie. Die erzählt dir heute nichts mehr. Und
helfen kannst du ihr auch nicht. Ich glaube, Herbert kriegt das von uns allen
noch am besten hin. Oder willst du sie etwa verhaften?«
Mayfeld schüttelte den Kopf. Für diese Frau würde er
nie im Leben einen Haftbefehl bekommen, allenfalls eine Zwangseinweisung in die
Psychiatrie.
Er ging in die Küche, holte Schaufel und Besen und
kehrte die Scherben und die Reste der Wildschweinlasagne auf. Julia lachte und
meinte, dass es nett sei, wenn er helfe, aber dass ein Besen nicht das richtige
Werkzeug sei, um Lasagne vom Boden aufzunehmen. Sie nahm ihm Besen und Schippe
aus der Hand.
»Was war da eigentlich gerade los, warum führt die
sich so auf?«, fragte er, als sich Julia wieder zu ihm an den Tisch setzte.
»Was hat Frau Holler für Diagnosen bei ihr gestellt?«
»In der Akte stand etwas von Borderline und PTBS .«
»Genau das ist es. Die junge Frau hat vermutlich eine
schwere Persönlichkeitsstörung, die auf massive Traumatisierungen zurückgeht.
Eine Störung an der Grenze zur Psychose. Und eine posttraumatische
Belastungsstörung. Sie ist gezeichnet fürs Leben.«
»Scheiße.«
»Du musst ihre Ausdrucksweise nicht übernehmen, aber
inhaltlich hast du vollkommen recht.«
»Und dieses Wimmern und Zittern, das war doch
Theater?«
»Das nennt man Dissoziation. Dass es auf dich so
unecht wirkt, ist kein Zufall. Für die Betroffenen fühlt es sich wie etwas
vollkommen Unwirkliches an. Aber sie können es nicht steuern, und deswegen ist
es für sie gleichzeitig auch echt und wirklich.«
»Sie spielen Theater und fühlen sich dabei wie
Marionetten?«
»Das trifft es nicht schlecht.«
»Und wie steht es um den Wahrheitsgehalt ihrer
Anschuldigungen?«
»Annika scheint mir eine wirklich sehr schwer gestörte
junge Frau zu sein. Das deutet oft auf
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