Frau Holle ist tot
als ihn sein Vater mit
dem Gürtel verhauen hatte.
Vielleicht ging es bei Marie ja auch so. Er musste
sich erinnern, wann das bei ihr mit dem Weinen angefangen hatte. Es fiel ihm
gleich wieder ein. Es war gar nicht den ganzen Tag so gegangen. Es hatte
begonnen, als er mit Marie durch den Johannisberger Höllenweg gefahren war und
sie den bösen Mann an der Bachmühle gesehen hatte.
Ich fürchte mich vor dem Teufel
nicht, hatte Basti gesagt.
Er schlug sich gegen die Stirn, dreimal und ganz fest.
Der Teufel mit den drei goldenen
Haaren, Märchen Nummer neunundzwanzig.
Warum war er nicht gleich darauf gekommen!
Wer meine Tochter haben will, der
muss mir aus der Hölle drei goldene Haare von dem Haupte des Teufels holen;
bringst du mir, was ich verlange, so sollst du meine Tochter behalten.
So musste es sein. Endlich hatte er das richtige
Märchen gefunden. Er räumte Totenbeine und Totenköpfe wieder in die
Schatztruhe, ging in die Schanze und packte seinen Rucksack.
***
Mayfeld hatte versucht, seinen Vater zu erreichen,
aber der hatte sein Handy ausgeschaltet. Er hatte sich im Präsidium über den
Stand der Fahndung nach Sebastian Fromm erkundigt, doch Meyer konnte ihm keine
Neuigkeiten berichten. Mayfeld nannte seinem Kollegen die Mobilnummer von Kevin
Möller und bat ihn, den Provider zu identifizieren und schnellstmöglich eine
Gesprächsliste zu besorgen.
Damit hatte er alles getan, was er zum gegenwärtigen
Zeitpunkt tun konnte. Mertens mit den Vorwürfen seiner ehemaligen Pflegetochter
zu konfrontieren, hatte bei der gegenwärtigen Beweislage keinen Zweck. Daher
setzte sich Mayfeld in die Küche und half Julia und Hilde beim Schnippeln des
Gemüses. Später ging er in den Keller, um den jungen Wein in seinen Fässern zu
kontrollieren.
Bei der Gärung ging alles seinen erwünschten Gang. Fass
eins hatte im Vergleich zu gestern zwei Grad Oechsle verloren und gärte
geordnet vor sich hin. Bei Fass zwei war die Temperatur um zwei Grad gestiegen,
und die Oechslegrade waren um zwei Grad gefallen. Die Gärung war also wieder in
Gang gekommen, Mayfeld konnte auf Zuchthefen und Gärsalze verzichten. Er
klemmte den Warmwasserkreislauf ab, stieg die Leiter am Fass empor, entfernte
die Wärmeschlange und verschloss das Loch an der oberen Wölbung des Fasses mit
einem Spund. Bei Fass drei hatte sich im Vergleich zu gestern nichts mehr
getan. Minus ein Grad Oechsle. So sollte es sein. Mayfeld beließ die
Kühlschlange vorsichtshalber im Fass.
Als er wieder nach oben kam, waren die Plätze im
Schankraum des Weinguts schon fast vollständig besetzt. Das Straußwirtschaftliche
Quartett winkte ihm vom Stammtisch aus zu, aber Mayfeld hatte an diesem Abend
keine Fragen an die Freunde und wollte sich seinerseits nicht ihrer Neugier
aussetzen. Er war überrascht, als er Burkhard entdeckte, der gerade die
Straußwirtschaft betrat, aber es war ihm sehr recht.
Er begrüßte den Kollegen und fragte, ob er privat oder
dienstlich nach Kiedrich gekommen sei.
»Ein Schluck von deinem Rothenberg wäre nett«,
antwortete Burkhard mit einem breiten Lächeln. »Und dann würde ich dich gern
irgendwo ungestört sprechen.«
Mayfeld nahm eine Flasche Rothenberg aus dem
Weinschrank und vom Regal daneben zwei Weingläser. Mit einem Kopfnicken wies er
Burkhard den Weg. Sie verließen den Schankraum, gingen an der Küche vorbei
durch den Flur des Weinguts in Richtung Büro.
Vor dem Bilderpanorama, das Mayfelds Schwiegermutter
von ihrer Familie an die Wand gehängt hatte, blieb Burkhard eine Weile stehen
und benannte die Mitglieder der Familie, die er kannte, mit ihren Namen: die
Schwiegereltern Hilde und Jakob, den Schwager Franz und seine Frau Elly. Auf
den Bildern der Kinder waren zum Teil auch deren Freunde zu sehen.
»Das ist Lisa zusammen mit Marie«, sagte Burkhard und
deutete auf eines der Fotos von Lisa.
Mayfeld stutzte und sah sich das Foto genauer an. Es war
acht Jahre alt und zeigte Lisa mit einem anderen Mädchen von der
Seepferdchengruppe, nachdem sie ihr erstes Schwimmabzeichen bekommen hatten.
Tatsächlich, Burkhard hatte recht: Das Mädchen neben Lisa Mayfeld war Marie
Lachner.
»Das wäre mir gar nicht aufgefallen«, sagte er
anerkennend zu dem Kollegen. »Ich kann mich gar nicht an sie erinnern. Sie wird
keine enge Freundin von Lisa gewesen sein. Aber du bist bestimmt nicht
gekommen, um dich mit mir über meine Familie zu unterhalten.«
Das letzte Mal war Burkhard vor einigen Jahren hier
gewesen, als Mayfelds
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