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Frau Holle ist tot

Frau Holle ist tot

Titel: Frau Holle ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Stark
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jetzt keinen Zweck mehr. Und so, wie es war, war
es gut, mit ihm und dem Mädchen. Wenn sie nur wieder wach würde.
    Er haute sich noch mal mit beiden Händen auf den Kopf.
Der Fromm hatte einmal gesagt, vielleicht würde das helfen. Aber meistens half
es nicht.
    Es war spät, und draußen war es ganz still geworden.
    Und alles war so still, dass einer
seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Türe
zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so
schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm
einen Kuss .
    Wieso war er darauf nicht früher gekommen? Märchen
Nummer fünfzig, nicht Nummer dreiundfünfzig. Das war nicht Schneewittchen, das
war Dornröschen! Er musste sie nur küssen.
    Wie er es mit dem Kuss berührt
hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz
freundlich an .
    Er beugte sich vorsichtig zu ihr herunter. Er wusste
nicht, wie ein Prinz küsste, aber er gab sich Mühe, alles richtig zu machen.
    »Bäh«, schrie das Mädchen und schlug ihm ins Gesicht.
    Dornröschen war aufgewacht. Aber so hatte er sich das
nicht vorgestellt. Niemand durfte ihn hauen. Er schlug zurück. Blut sickerte
aus ihrer Nase. Das hatte sie jetzt davon.

Montag, 24. Oktober
    Die Morgenbesprechung des K10 fand im
Konferenzzimmer statt, einem hellen Raum im ersten Obergeschoss des
Polizeipräsidiums, von dem aus man den Blick über die Schrebergärten der
Kolonie »Unter den Nussbäumen« schweifen lassen konnte. Und was für ein Blick
das an diesem Tag war. Für Tage wie diesen war der Ausdruck »Goldener Oktober«
erfunden worden. Das Laub der Bäume hatte die unterschiedlichsten Herbstfarben
angenommen, von braun, ocker und beige über leuchtend goldgelb und orange bis
hin zu scharlachrot, rostrot und rotbraun. Der Himmel über Wiesbaden leuchtete.
    Mayfeld hatte die Besprechung auf den späten Vormittag
verlegt, in der Hoffnung, dass seine Mitarbeiter bis dahin einige Fakten
zusammengetragen hätten. Er besah sich die Runde. Winkler sah blass und
mitgenommen aus. Sie steckte in einem flauschigen blauen Pullover und hatte
sich einen roten Schal umgebunden. Nase und Augen waren noch stärker gerötet,
sie schniefte noch lauter als am Vortag. Burkhard trug wie immer seine
Lederjacke. Er wirkte konzentriert und aufgeräumt und blätterte in einem
Aktenordner. Wann war dieser Mensch eigentlich nicht braun gebrannt, überlegte
Mayfeld, aber dann fiel ihm ein, dass der Kollege gerade aus dem Urlaub
zurückgekommen war. Kriminaloberkommissar Hartmut Meyer, der nach einem
Schlaganfall vierzig Kilo abgenommen, im vergangenen Jahr aber sein altes
Kampfgewicht von hundertfünfunddreißig Kilo wieder erreicht hatte, packte drei
Plundertaschen aus einer Papiertüte, faltete die Tüte sorgfältig zusammen und
legte die süßen Teilchen darauf. Daneben platzierte er sein Blutzuckermessgerät
und die Insulinspritze. Adler trommelte ungeduldig mit den Fingern auf einem
Stapel Papier.
    »Schön, dass Sie auf mich gewartet haben!«
Staatsanwalt Dr. Peter Lackauf betrat den Besprechungsraum und setzte sich
zu der Runde. Wie immer war er in einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug
gewandet und wirkte mit weißem Hemd, gedeckter Krawatte, maßgefertigten Schuhen
und goldenen Manschettenknöpfen wie aus dem Ei gepellt.
    Als Erstes würde der Staatsanwalt vermutlich eine
Bemerkung darüber machen, wie schmerzlich er Kriminalrat Brandt, den
Vorgesetzten von Mayfeld, vermisste. Nicht, dass ihn Oskar Brandt, der sich
nach einem Herzinfarkt in einer Rehaklinik befand, im Geringsten interessierte,
die beiden hatten sich nie sonderlich leiden können. Lackauf wollte auf diese
Art und Weise lediglich zum Ausdruck bringen, wie wenig er Mayfeld schätzte.
    »Kommen Sie zurecht, Mayfeld? Ich meine, Brandt war
doch so was wie ein väterlicher Mentor für Sie.« Lackauf versuchte jovial zu
lächeln, aber das misslang ihm wie alles, was er tat, wenn er leutselig wirken
wollte.
    Winkler schnäuzte sich, Meyer legte sein
Plunderteilchen mit einer Geste weg, als ob ihm gerade der Appetit vergangen
wäre, Adler studierte demonstrativ die Schönheiten des herbstlichen Tages in
der Gartenkolonie gegenüber, und sogar Burkhard, nicht gerade als Freund
Mayfelds bekannt, rollte mit den Augen.
    Mayfeld ignorierte Lackaufs Frechheit.
    »Kommen wir zu den Fakten«, eröffnete er die Runde.
Das würde Lackauf bestimmt ermüden. Er wandte sich an Winkler. »Was

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