Frau Holle ist tot
platzte.
Später wachte sie auf und weinte.
»Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so
sehr?«
Der Traum schien weiterzugehen, aber irgendwie fühlte
er sich jetzt wirklicher an. Sie öffnete die Augen und versuchte, sich die
Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Die Hand tat weh, der Brustkorb tat weh,
jetzt meldete sich auch der Fußknöchel mit Schmerzen. Ihr Kopf pochte und
dröhnte, ihr war schwindelig und schlecht. Doch allmählich schärfte sich ihr
Blick. Vor ihr saß das Monster aus dem Traum.
»Heißt du vielleicht Rippenbiest oder Hammelswade oder
Schnürbein?«, fragte das Monster und fuchtelte mit beiden Händen vor ihrem
Gesicht herum.
»So heiß ich nicht«, antwortete sie.
Der Riese lachte, er schien begeistert zu sein. Sie
konnte gar nicht verstehen, was an ihrer Antwort so lustig sein sollte.
»Kaspar, Melchior, Balzer?«
Sie spürte, wie sich ihre Angst in Wut verwandelte.
Sie hatte nichts zu verlieren. Der Riese wiederholte seine dämliche Frage.
»Was soll der Scheiß? Sehe ich vielleicht aus wie die
Heiligen Drei Könige, du Honk?«
Der Riese hörte abrupt auf zu lachen. »Was ist das?«
»Was ist was?«
»Was ist ein Honk?«
»Ein Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse. Ein
Dämlack, Depp, Dummkopf, Idiot, Trottel.« Hoffentlich war sie jetzt nicht zu
weit gegangen.
Der Riese schaute sie finster an. »Ich kann aber schon
was!«, brummte er. Er klang beleidigt. »Ich kann schön zeichnen. Sehr schön
zeichnen. Die ganzen Märchen von den Gebrüdern Grimm kann ich auswendig
aufsagen, und kochen kann ich, ich kann siebenhundertachtunddreißig Rezepte
auswendig aufsagen und zweihundert Märchen. Weniger Märchen als Rezepte, weil
die Märchen länger sind.«
Der Typ machte ihr Angst, aber irgendwie war er auch
komisch. Vielleicht kam sie bei ihm weiter, wenn sie ganz lieb war. Sie spürte
ihren Hunger.
»Gibt’s hier vielleicht was zu essen?«, fragte sie und
guckte ihn mit ihrem Hundewelpenblick an.
Die Frage schien den Riesen zu freuen. Er sprang von
seinem Stuhl auf und klatschte in die Hände.
»Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich
der Königin ihr Kind«, rief er laut.
»Gibt’s vielleicht gleich was zu essen?«
»Ich hab schon gebacken«, sagte der Riese nicht ohne
Stolz. »Nussbrot. Rezept Nummer einhundertvierundsechzig. Soll ich es dir
verraten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ratterte er das Rezept herunter.
»Und dann hol ich dir noch ein Stück Wildterrine, Rezept dreiundachtzig. Ich
hab das Wild nicht selbst geschossen, aber die Terrine selbst gemacht.« Wieder
folgte das Rezept. »Und Quittengelee. Rezept vier.«
»Auch selbst gemacht?«
»Das hat Mama gemacht.«
Mama! Hier gab es also noch jemanden. »Ist deine Mama
da?«
»Die hat der Wolf gebissen.«
Was da wohl für ein Scheiß dahintersteckte, fragte
sich Marie beklommen. Kaum war etwas Hoffnung aufgekeimt, fiel sie schon wieder
in sich zusammen.
»Kann ich auch was zu trinken haben?«
»Hollersaft! Rezept eins!« Er verließ den Raum,
während er ein Rezept für Hollersaft rezitierte.
Die Tür fiel ins Schloss. Sie hörte, wie sich der
Schlüssel im Schloss drehte.
***
Als Mayfeld am Südfriedhof ankam, war die
Obduktion schon seit geraumer Zeit im Gange. Dr. Enders war gerade dabei,
die Schädeldecke der Toten mit einer Kreissäge vom Rest des Kopfes abzutrennen
und das Gehirn zu entnehmen. Ein großer Schnitt klaffte von Sylvia Hollers
Brustbein bis zum Schambein, das Innere der Körperhöhlung war bereits leer
geräumt, die Organe in Schalen und Schüsseln gelegt. Enders nickte Mayfeld nur
kurz zu und arbeitete ruhig und systematisch weiter, inspizierte das Gehirn,
diktierte seine Befunde und gab es dann an seine Assistentin, eine junge Frau
mit walkürehaftem Äußeren, weiter.
Mayfeld war ganz froh, dass der Rechtsmediziner nichts
fand, was er ihm unbedingt zeigen wollte. Im Laufe seiner beruflichen Karriere
hatte er vielen Obduktionen beigewohnt. Mittlerweile wurde ihm nicht mehr
schlecht, aber er erlebte den Rest des Tages wie unter einer Glasglocke, wie
betäubt, wenn er sich zu intensiv mit dem Zerschneiden der Leichen konfrontiert
hatte. Er wartete, an die gekachelte Wand des Obduktionssaals gelehnt, in
einigen Metern Entfernung von der Leiche darauf, dass Dr. Enders seinen
Job erledigt hatte.
»Gibt es Hinweise darauf, dass die Tote nach ihrem Tod
noch bewegt wurde?«, fragte er schließlich, als der Arzt den Leichnam wieder
zugenäht hatte. »Zum
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