Frau Holle ist tot
schaffen, aber was gibst du mir,
wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?« Er machte eine Pause, dann fügte er
hinzu: »Sag doch mal: Was du haben willst.«
»Was du haben willst.«
Er klatschte begeistert in die Hände.
»Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine
goldene Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich lieb haben willst, und ich
soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen,
von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem
Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen.«
»Mach hin«, antwortete sie. Und weil ihr das etwas zu
unfreundlich vorkam, fügte sie hinzu: »Das wäre sehr nett.« Was er da gerade
als Gegenleistung gefordert hatte, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
»Wo willst du denn hinuntersteigen?«
»Eieieieiei«, rief der Riese. »Das stimmt gar nicht.
Ich werde gar nicht hinuntersteigen. Ich muss hinaufsteigen, auf den Berg. Als
ich dich hierhergetragen habe, ist der Rucksack runtergefallen. Ich such ihn.«
»Das wär echt super.«
Sie schaute ihn wieder mit ihrem Hundewelpenblick an.
Vielleicht konnte sie ja die Flatter machen, während er nach dem Handy und dem
Rucksack suchte.
Rübezahl klatschte in die Hände. »Jetzt ist es doch
wie beim Froschkönig!«
Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Er murmelte
etwas wie »plitsch platsch, plitsch platsch« und ließ die Tür ins Schloss
fallen. Sie hörte, wie er den Schlüssel zweimal umdrehte.
***
Nach der Obduktion machte sich Mayfeld auf den Weg
nach Aulhausen. In Rüdesheim bog er von der B 42 ab und fuhr durch die welligen
Hügel, die sich vom Rhein zu den Wäldern des Taunus hinzogen. Aus den
Lautsprechern des Volvos ertönte das »Deutsche Requiem« von Brahms. »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras« , sang der Chor die
düsteren Bibelverse. Die Straße schlängelte sich durch Weinberge der Lagen
Klosterlay und Bischofsberg und erkletterte die bewaldeten Höhen des
Rheingaugebirges. Vorbei an Obstbaumwiesen und Weideflächen fuhr Mayfeld ins
Eichbachtal hinab.
Die Verwaltung des Sonderpädagogischen Zentrums Sankt
Vincenzstift war in der Ortsmitte im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster
Marienhausen untergebracht, in einem prächtigen Gebäude, dessen gelber Putz mit
den Fensterbrüstungen aus rotem Sandstein und dem schwarzen Schiefer des Daches
kontrastierte.
Er hatte sich telefonisch angemeldet. Vor dem
zweiflügeligen Holztor erwartete ihn Anselm Strecker. Der Prälat war ein
beeindruckender Mann, um die sechzig, groß gewachsen und durchtrainiert.
Lediglich ein kleines Bierbäuchlein minderte die stattliche Erscheinung. Der
konservative schwarze Anzug konnte die Vitalität, die aus seinen Bewegungen und
seinen funkelnden Augen sprach, nicht verbergen. Er strich sich durch den
weißgrauen Rauschebart.
Der Prälat begrüßte Mayfeld mit einem festen
Händedruck und führte ihn in sein Büro, wo er sich hinter einem schweren alten
Eichenschreibtisch niederließ und den Kommissar bat, auf einem Besucherstuhl
davor Platz zu nehmen.
»Es ist etwas mit Frau Dr. Holler geschehen?«
Prälat Strecker kam sofort zur Sache.
»Sie wurde in ihrer Praxis in Martinsthal ermordet.«
Aus dem Gesicht des Geistlichen wich alle Farbe. Ein
leichtes Zittern befiel seine Hände. Schließlich beruhigte er sie, indem er sie
in einer frommen Geste faltete.
»So etwas habe ich befürchtet. Warum sonst sollte sich
die Polizei für sie interessieren? Ich werde für ihre Seele beten. Was kann ich
für Sie tun?«
Mayfeld hatte sich vorgenommen, erst ganz allgemeine
Fragen über Sylvia Hollers Tätigkeit zu stellen.
»Frau Holler hat lange im Vincenzstift gearbeitet. Ich
möchte mir ein Bild von ihr machen und frage deswegen alle, die sie kannten:
Was war sie für ein Mensch?«
Strecker griff nach einer Kladde auf seinem Schreibtisch
und blätterte darin. »Sie hat von 1978 bis 1990 bei uns gearbeitet, zunächst
nur in der Betreuung unserer Bewohner, später war sie auch in der Ausbildung
der Erzieherinnen tätig. Das ist alles über zwanzig Jahre her.«
»Irgendwo müssen wir anfangen. Erzählen Sie einfach,
an was Sie sich erinnern.«
Prälat Strecker schloss die Kladde und faltete die
Hände erneut wie zum Gebet. »Sie war eine engagierte Mitarbeiterin, mir hat das
immer gefallen. Sie hat sich für die Wiedereingliederung unserer Bewohner in
die Gesellschaft eingesetzt. Wir haben es sehr bedauert, als sie uns
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