Frau Holle ist tot
aber Mayfeld lehnte ab. Obwohl es ihm bei Selbstgedrehten
schwerfiel, besonders im Moment. Er steckte sich stattdessen ein paar
Weingummis in den Mund.
»Kein schöner Anblick«, bemerkte Enders und zog lange
an seiner Zigarette.
Die beiden Männer schwiegen eine Weile.
»Ich habe unter den Fingernägeln der rechten Hand
Gewebespuren gefunden«, sagte Enders dann. »Die werden wir analysieren.«
»Das ist gut«, antwortete Mayfeld. »Eine erste Spur.
Was war das gerade zum Schluss?«
»Ich habe versucht, dir zu demonstrieren, dass wir
eindeutige Hinweise haben, dass die Leiche post mortem bewegt wurde, und zwar
innerhalb der ersten sechs Stunden nach Eintritt des Todes. Die Totenflecken
sind gemäß der neuen Position der Leiche nach unten zum Gesäß gewandert. Aber
die Einblutungen sind dort geblieben, wo sie waren. Die Leiche lag zunächst auf
dem Rücken, bevor sie auf das Sofa gesetzt wurde. Du wolltest doch wissen, ob
sie bewegt wurde.«
»Danke.« Eine einfache Mitteilung hätte genügt, dachte
Mayfeld, die ausführliche Demonstration wäre nicht nötig gewesen. »Und wann ist
das geschehen?«
»Frühestens eine halbe Stunde nach dem Tod, spätestens
nach sechs Stunden. Genauer kann ich dir das leider nicht sagen. Wir könnten
Gewebeuntersuchungen anstellen, um herauszufinden, ob bei der Umlagerung die
Leichenstarre gebrochen wurde. Die zeigt sich später als die ersten Flecken.
Damit könnten wir den Zeitpunkt der Umlagerung der Leiche vielleicht etwas
genauer eingrenzen. Soll ich das machen? Ist das wichtig für die Ermittlungen?«
»Ja, mach das«, sagte Mayfeld.
So schnell würde der Körper von Sylvia Holler keine
Ruhe finden. Es ist nur ihr toter Körper, sagte er sich zur Beruhigung. Enders
machte seine Arbeit mit dem größtmöglichen Respekt für die Toten, und diese
Untersuchung war für die Ermittlungen wichtig. Dennoch war es plötzlich da, das
Gefühl, sich unter einer Glasglocke zu befinden.
»Was kannst du über den Todeszeitpunkt sagen?«, wollte
er noch wissen.
»Zwischen zwei und sechs Uhr am Morgen des letzten
Samstags.«
Wieder schwiegen die beiden Männer eine Weile.
»War es das?«, fragte Enders schließlich.
Mayfeld nickte. Dann überlegte er es sich anders.
»Hast du mal eine Zigarette für mich?«, fragte er den
Arzt.
***
Marie konnte mit selbst gemachtem Ökozeugs
eigentlich nichts anfangen, aber das Essen, das ihr der Riese gebracht hatte,
war lecker. Sogar der Hollersaft schmeckte besser als die Energydrinks, die sie
sonst trank. Der Monsterriese konnte also kochen. Bei dem Hunger, den sie
schob, hätte ihr allerdings alles geschmeckt.
Während sie aß, schaute er ihr zu.
»Nussbrot mit Wildterrine und Quittengelee und
Hollersaft«, wiederholte er die Speisenfolge zum wahrscheinlich hundertsten
Mal.
»Ich weiß. Das Quittengelee hat Mama gemacht, aber die
hat der Wolf gebissen.« Immer schön cool bleiben.
»Stimmt. Hast du es dir jetzt gemerkt?«
»War lecker, das Zeugs.«
»Das ist wie bei Schneewittchen. Das ist nicht wie
beim Froschkönig«, murmelte der Riese.
»Ich rall gar nichts.«
Der Gesichtsausdruck des Riesen war so hell wie
Schwarzbrot.
»Du weißt wohl nicht, was ›rallen‹ heißt?«
»Doch, Rallen sind Wasservögel. Ich hab ein Buch über
Vögel gelesen, weil es im Wald so viele gibt. Ein Buch mit gezeichneten
Bildern, das mir Opa gegeben hat, damit ich die Vögel erkenne. Ein Teichhuhn
hab ich mal gesehen, das ist so eine Ralle. Aber hier gibt es mehr Rebhühner.
Das sind keine Rallen.« Der Riese schwieg eine Weile. Er schien nachzudenken.
»Märchen Nummer dreiundfünfzig, nicht Nummer eins«, sagte er schließlich.
Der Typ war voll abgedreht. Wenn er ihr bloß nicht so
viel Angst einjagen würde. Bloß nichts anmerken lassen und cool bleiben, redete
sie sich zu.
»Was ist los mit Schneewittchen und Froschkönig?«,
fragte sie.
»Du hast von meinem Tellerchen gegessen und aus meinem
Becherchen getrunken. Wie bei Schneewittchen. Beim Froschkönig ist es umgekehrt.«
Er starrte sie an, als würde er begeisterte Zustimmung für seine Erkenntnis
erwarten. Seine Probleme hätte sie gern.
»Wie die sieben Zwerge siehst du aber nicht aus, du
bist eher rübezahlmäßig unterwegs.« Immerhin konnte sie ihn mit dem Spruch zum
Lachen bringen.
»Wo hast du meine Sachen hin?«, traute sie sich zu
fragen.
»Was für Sachen?«
»Meinen Rucksack, mein Handy.«
»Ist das Handy dein Lieblingsspielzeug?«
»Hast du es?«
»Ich kann wohl Rat
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