Frau Holle ist tot
Gesicht huschte die Andeutung
eines Lächelns. Dann verfinsterte sich ihr Blick.
»Und deswegen zeigt er ihn bei der Polizei an?«,
fragte sie wütend. »Wissen Sie, wie viel Schläge mein Junge von seinem Vater
bekommen hat? Er ist seither sehr empfindlich. Wahrscheinlich hat ihn mein Ex
gereizt, hat ihm gedroht oder so etwas.«
Ihrer Wut mischte sich Verzweiflung bei. Sie holte ein
mit Spitzen gefasstes Taschentuch unter der Bettdecke hervor und wischte sich
eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Es war ein Fehler, ihn um Hilfe zu bitten, ich habe
das von Anfang an geahnt. Alles, was ich je mit diesem Mann gemacht habe, ist
ein Fehler gewesen.«
»An was für einer Behinderung leidet Ihr Sohn?«
»Deswegen sind Sie doch nicht hierhergekommen, Herr
Kommissar, um sich mit mir über die Behinderung von Basti zu unterhalten. Was
wollen Sie von ihm, was wollen Sie von mir?«
Er würde diese Frage zurückstellen, aber nicht
vergessen.
»Ihr Exmann hat gesehen, dass Sebastian ein Mädchen
bei sich hatte, eine Vierzehnjährige, die seit dem Wochenende vermisst wird.«
Waltraud Fromm schien aufs Höchste alarmiert. Sie
hüstelte nervös.
»Ein Mädchen?«, fragte sie ungläubig. »Mit Mädchen
hatte er noch nie zu tun.« Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: »Ich bin
überrascht, aber andererseits kann ich darin nichts allzu Schlimmes sehen. Ist
das Mädchen denn von zu Hause weggelaufen?«
»Das könnte sein.«
»Dann sollten Sie sich über die Eltern Gedanken
machen, nicht über meinen Sohn.«
So geschwächt diese Frau war, sie würde für ihren
Jungen kämpfen wie eine Löwin.
»Ursprünglich wollten Sie, dass seine Tante, Sylvia
Holler, nach Sebastian schaut.«
»Hat Ihnen das Georg erzählt?«
»Ja, und er hat uns auch gesagt, dass Sebastian Ihnen
gegenüber behauptet hat, er wäre zu einem Zeitpunkt bei seiner Tante gewesen,
als sie schon tot war.«
Waltraud Fromm bekam einen Hustenanfall, schnappte
nach Luft. Mayfeld war sich nicht sicher, ob er das Gespräch fortsetzen sollte.
»Und was schließen Sie daraus? Er hat seine Mutter
angeschwindelt, weil er wusste, dass ich sonst seinen Vater – wie soll ich
sagen? – auf ihn hetzen würde. Seit wann kümmert sich die Polizei um so etwas?«
»Seit wann wissen Sie vom Tod Ihrer ehemaligen
Schwägerin?«
»Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Sylvia war
nicht nur meine Ex-Schwägerin. Sie war eine gute Freundin.«
»Wie war das Verhältnis zwischen Ihrem Sohn und seiner
Tante?«
»Sie wollen ihn doch nicht mit dem Mord an Sylvia in
Verbindung bringen? Das ist absurd.« Waltraud Fromms Augen blitzten jetzt vor
Zorn.
Mayfeld wiederholte seine Frage.
Waltraud Fromm hielt einen Moment inne, wie um sich zu
sammeln, dann richtete sie sich in ihrem Bett auf. Sie sprach jetzt mit fester
Stimme.
»Früher standen sie sich sehr nahe. Sylvia hat Basti
immer Märchen vorgelesen. Er hat die richtiggehend aufgesaugt. Basti ist
Autist, er ist in seiner Kontaktaufnahme und in seinen Beziehungen zu
Mitmenschen anders als wir. Sylvia wollte ihn über das Erzählen von Geschichten
an das Leben heranführen. In gewisser Weise ist ihr das auch gelungen. Was wir
auf diese Art und Weise auch bemerkt haben, ist, was für ein phänomenales
Gedächtnis mein Junge hat. Er kann sich alles, was er sieht, alles, was er
hört, merken. Leider weiß er nicht allzu viel mit seinem Gedächtnis anzufangen,
weil es mit anderen Denkleistungen eher hapert. Aber ich schweife ab. Was war
noch mal Ihre Frage?«
»Wie war Bastis Verhältnis zu seiner Tante?«
»Wie gesagt, als Basti klein war, war sein Verhältnis
zu Sylvia recht eng. Sie hat uns sehr geholfen, als ich mich von meinem Mann
trennte. Sylvia hat mir Mut gemacht, ihren Bruder zu verlassen. Später, als
Sylvias Mann starb, hat sie von einem Teil des Geldes aus der
Lebensversicherung das Haus im Sülzbachtal gekauft, in dem sie uns wohnen
lässt. In den letzten Jahren ist das Verhältnis lockerer geworden. Basti geht
seine eigenen Wege, er ist ein Eigenbrötler. Sylvia mochte ihm auch keine
Märchen mehr vorlesen, sie fand, dass er es mit seiner Begeisterung übertreibe.
Außerdem ist Sylvia eine viel beschäftigte Frau, auch wir beiden Frauen hatten
nicht mehr so viel miteinander zu tun wie früher. Aber die Beziehung ist immer
herzlich geblieben.«
»Wir haben ein Testament in Frau Hollers Wohnung
gefunden.«
»Ah, ja?« Waltraud Fromm schien überrascht. Ihre Augen
füllten sich wieder mit Tränen.
»Sie sollen die
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