Frau Holle ist tot
sich um Annika,
Marie und Mertens kümmern, sagte er sich anschließend.
Er rief im Rüdesheimer Krankenhaus an und erhielt die
Auskunft, dass Annika Möller heute entlassen worden sei. Ihre Handynummer hatte
er nicht, einen Festnetzanschluss gab es nicht, er würde sie noch einmal
besuchen müssen.
Mayfeld öffnete die Akte »Lachner_Marie.doc«. Holler
hatte neben jede Aufzeichnung der Therapiesitzungen Zeitabschnitte notiert, die
sie für besonders bedeutsam gehalten hatte. Er hörte in die Mitschnitte der
Therapiesitzungen hinein.
Holler fragte ihre junge Klientin nach Erinnerungen an
den Unfall ihrer Eltern, worauf Marie lang und anhaltend weinte und von Holler
behutsam getröstet wurde. Holler entschuldigte sich sogar dafür, dass sie sie
mit ihren Fragen womöglich verletzt habe, und meinte, manchmal sei Traurigkeit
oder Schmerz Ursache für Wut.
In den darauffolgenden Sitzungen berichtete Marie von
Alpträumen, in denen sie in Feuersbrünsten umkam, eine Klippe herabstürzte oder
von einem Zug überrollt wurde. Die Therapeutin brachte dies mit verdrängten
Erinnerungen an den Unfall in Verbindung.
Danach fragte Holler Marie nach ihren Erlebnissen in der
Pflegefamilie. Daraufhin passierte etwas Merkwürdiges. Marie begann, heftig zu
atmen und zu keuchen. Schließlich hörte man nur noch ein Wimmern und Hollers
ruhige, aber auch besorgte Frage, wo sie denn gerade sei, anschließend die
behutsame Aufforderung der Therapeutin, ruhig und langsam und tief zu atmen,
den Stuhl zu spüren, auf dem sie sitze, sich zu vergegenwärtigen, wo sie gerade
sei, sich klarzumachen, dass sie hier in ihrer Praxis und in Sicherheit sei, an
einem sicheren Ort.
Ein Vorgehen, das Mayfeld an das erinnerte, was er
schon bei Annika Möller gehört hatte. Dann bat Holler Marie, sich vorzustellen,
all die Bilder, die gerade aufgetaucht seien, in einem Tresor zu verwahren,
dessen Aussehen sie ganz konkret schildern sollte. Anschließend forderte sie
ihre Klientin auf, sich an den sicheren Ort zu begeben, über den sie in
früheren Stunden gesprochen hätten, und Marie begab sich auf eine Traumreise zu
einem Märchenschloss mit Türmen, Zinnen, einem breiten Wassergraben und einer
massiven Zugbrücke.
In den folgenden Wochen klagte Marie über Alpträume,
die voller Teufel und maskierter Gestalten waren, die sie entweder verbrennen,
pfählen, aufspießen oder aufschlitzen wollten. All diese Träume endeten damit,
dass sie von den Teufeln in einen Sarg gelegt und in einem Leichenwagen durch
einen Wald kutschiert wurde.
In den schriftlichen Notizen zu diesen
Therapiesitzungen hielt Holler fest:
Auf Frage nach Pflegefamilie
dissoziiert Pat. heftig. Nicht ganz leicht, sie zurück in die Realität zu
bringen und einen inneren sicheren Ort zu etablieren. Die Alpträume weisen auf
eine weitere schwere Traumatisierung hin. Auffällig sind die Unterschiede in
Struktur und Inhalt der Träume im Vergleich zu früheren Träumen, als sie sich
an den Unfall erinnerte. Welche Rolle spielt die Pflegefamilie?
In den Notizen zur letzten Sitzung im August hatte
Holler notiert:
Marie scheint sich wieder
stabilisiert zu haben, die Alpträume sind wieder verschwunden. Heute kündigt
sie mir eine Freundin an, mit der sie vor zehn Jahren in der Pflegefamilie
gelebt habe. Annika beginne immer zu zittern und sich zu ritzen, wenn sie auf
ihre kleinen Schwestern zu sprechen komme.
Mayfeld schloss die Datei. Draußen hatte sich die
Nachmittagssonne gegen die Hochnebel durchsetzen können, der Himmel war
aufgerissen, das Herbstlaub der Gartenkolonie gewann seine Farbigkeit zurück.
Ein friedliches Bild lag vor Mayfelds Augen, das so gar nicht zu den inneren
Bildern der Zerstörung passte, in die er in den letzten beiden Stunden
eingetaucht war.
Es klopfte an der Tür, Burkhard kam herein.
»Dieser Novotny ist ein echter Mistkerl«, begann er
seinen Bericht. »Sagt immer nur so viel, wie er sagen muss. Kevin Möller hat
bei ihm gearbeitet. Ich nehme mal an, er hat geklaute Wagen neu lackiert und
nach Russland oder Osteuropa überführt. Offiziell hat er Kunden die
Schrottmühlen angedreht, die auf dem Betriebsgelände herumstehen. Hätte mir
gerne ein paar seiner Schuppen von innen angeschaut, aber er hat mich nicht
reingelassen.«
»Ist vermutlich auch nicht unsere Baustelle«, bemerkte
Mayfeld.
Burkhard stimmte ihm zu. »Der Junge hatte diese Woche
frei. Novotny schien überrascht, als er von Kevins Tod erfuhr, für seine
Verhältnisse wirkte er sogar
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