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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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der wurde im November 1915 geboren.
    Vera war da so im vierten, fünften Monat. Besonders schwanger sah sie noch nicht aus.
    Das hieß aber, dass die beiden Schwestern Annetje und Vera im selben Jahr, 1915, gleichzeitig schwanger gewesen sein mussten. Wenn ›Willem‹ Mitte Februar 1916 geboren wurde, musste er ja im Mai 1915 gezeugt worden sein. Es sei denn, die Schwangerschaft war irgendwie abgekürzt worden   …
    Ich beugte mich noch einmal über das Foto. Annetjes Bauch verbarg sich hinter der Lehne ihres Stuhls. Nichts zu sehen. Vielleicht wusste sie selbst noch nicht einmal, dass sie schwanger war, als dieses Foto aufgenommen wurde. Die ›Willem‹-Frage blieb also weiter in Nebel gehüllt.
    Dann mal probieren, ob ich über die Vergangenheit des alten H.   C.   Oud noch etwas in Erfahrung bringen konnte. Ich holte mir zwei Biografien über seine beiden berühmten Söhne aus der Bibliothek.
    In einer Studie über den Architekten wurde berichtet, dass der älteste Sohn, Piet, immer der Liebling des Vaters und die Mutter depressiv gewesen sei; und dass die Brüder untereinander wenig Kontakt gehabt hätten.
    Ich blätterte die Biografie des ältesten Sohnes durch. Und stieß auf eine Fotobeilage. Da stand Piet Oud in Uniform.
Als junger Sergeant in Amsterdam mobilisiert, 1915.
Ein gut aussehender junger Mann, breiter Kiefer, tiefliegende Augen, regelmäßige Züge. Mein Blick blieb an diesem Gesicht kleben. Er sah dem alten H.   C.   Oud ähnlich – und doch wieder nicht.
    Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Und auf einmal wusste ich es! Ich legte das Foto von dem jungen Mann aus Oma Annetjes Pass daneben. Das war nicht der alte H.   C.   Es war kein Zweifel möglich: Es war ein Jugendbild des prominenten Politikers P.   J.   Oud!
    Piet war 1886 geboren, also zwei Jahre älter als Annetje und in dem bewussten Jahr 1915 schon längst verheiratet. Piet, Ouds brillanter ältester Sohn, der 1915, als die Affäre mit Annetje auf dem Höhepunkt gewesen sein musste, schon seinen kometenhaften Aufstieg begonnen hatte, war zur Zeit ihrer Ausbildung im Wilhelmina-Hospital in Amsterdam beim Militär gewesen.
    Plötzlich passte alles zusammen. Ich suchte in Annetjes Album wieder das Strandfoto auf:
Scheveningen 1920.
Vater Oud, dick und fast sechzigjährig, sitzt wie ein Pascha in der Mitte, den Kopf etwas schief gelegt, die Augen unter einem Sonnenhut, in die Linse schauend. Er wird flankiert von Annetje, mittlerweile zweiunddreißig, und ihrer Schwester Vera. Neben ihnen sitzen mir unbekannte Ouds, aber Oma Annetje hatte glücklicherweise die Namen darunter geschrieben.
    Ganz links sitzt er: Piet; ganz rechts seine Frau, beide zusammen mit einem kleinen Sohn der Familie Vlek. Ihr eigener Sohn sitzt im Sand zu ihren Füßen. Das Foto wurde vier Jahre nach Annetjes Drama aufgenommen. Vielleicht ist es sogar das erste Wiedersehen mit dem Exgeliebten.
    Annetje sieht schräg zur Seite, mit dem Gesichtsausdruck, der mir so vertraut ist. Sie schaut zur jungen Mutter des kleinen Hein Oud hin – die gesund aussieht und glücklich lächelt. Annetje muss an seinen Halbbruder ›Willem‹ gedacht haben, der – hätte er gelebt – nur zwei Jahre jünger als der kleine Hein gewesen wäre. Sie dachte an das Kind, dass sie nicht hatte haben dürfen.
    Wie gut kannte ich diesen Blick, von früher, von Vosseveld.Wenn meine Mutter mit ihrem Jaapje an der Brust dasaß. Wenn sie ihren Anspruch auf ihn geltend zu machen versuchte. Eifersucht, zweifellos. Aber es war schlimmer. Es war Erniedrigung, Ohnmacht.
    Die junge Frau Oud lächelt, das zufriedene Lächeln der glücklichen jungen Mutter. Falls sie jemals eine betrogene Ehefrau gewesen sein sollte – wenn sie etwas vermutet oder gewusst hatte   –, dann hat sie jedenfalls am längeren Hebel gesessen.
    Jetzt konnte ich mir vorstellen, wie es sich vielleicht abgespielt hatte. Mit H.   C.   Ouds Namen auf dem Geburtsschein des toten Kindes sollte die Vaterschaft zum alten Herrn verlegt werden, für den Fall, dass irgendetwas über Annetjes Verhältnis mit seinem Sohn herauskommen sollte. Der Alte hatte sich in der Folge um Annetje gekümmert – wenn nicht aus Liebe, dann wohl um ihr Schweigen zu sichern. Um einen Skandal zu vermeiden, der seinen vielversprechenden Sohn den Kopf hätte kosten können.
    Über Piet Ouds Amsterdamer Jahre fand ich in den Biografien nichts. Aber im Staatsarchiv in Den Haag musste mehr über ihn

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