Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
bequemen Lehnstühlen und Sesseln zum Ausruhen. Nebst weiteren gemütlichen Ecken, die für diesen Zweck geschaffen wurden, bietet eine feine doppelte Schreibtafel Gelegenheit zum Schreiben und Arbeiten.
Im Schwesternheim gab es auch einen geräumigen neuen Speisesaal mit einer prachtvollen Aussicht. Die Badezimmer waren »praktischerweise neben den Schwesternzimmern gelegen«, mit »auch nach sieben Uhr verfügbarem« warmen Wasser, verglichen mit den Zuständen in Utrecht ein unerhörterLuxus. Dann die Frage der Freizeit: Es wurde »besonders darauf geachtet, dass die Schwestern außerhalb ihrer Dienstzeit auch außerhalb des Krankenhauses ihre Entwicklung und ihre Zerstreuung suchen und nicht auch in ihrer Freizeit noch an die Anstalt gebunden bleiben«.
Zeitvertreib gab es genug: Der Tennisplatz im nahe gelegenen Vondelpark wird mehrmals erwähnt in Briefen von Annetjes Freundin, Schwester Baars. Ferner gab es Konzerte und Kulturabende, organisiert von der Vereinigung
Wer rastet, der rostet
, dem
Geselligkeitsverein
des Wilhelmina-Hospitals.
Das Verhältnis mit H. C. Oud musste in diesen Jahren begonnen haben, wenn es Anfang 1916 wirklich zur Geburt ihres heimlichen Kindes gekommen war. Wie konnte die Affäre sich abgespielt haben? Annetje muss H. C. Oud heimlich getroffen haben, wenn sie auf Urlaub in Purmerend war, um ihre Eltern zu besuchen. Aber wo hatte das Paar Gelegenheit finden können, sich in Liebe zu begegnen? Wie oft hatte Annetje eigentlich Urlaub gehabt? Aus Briefen von Vera aus jenen Jahren konnte ich schließen, dass sie gewöhnlich in Arnheim ihre Zuflucht suchte. Jedenfalls weilte sie dort auch im Sommer von 1915, der Zeit ihrer ›Krankheit‹.
Somit hätte der alte Oud sie dort besucht? Dort hätte er, ein verheirateter Mann, sie geliebt und ihr den Hof gemacht, unter den Augen von Schwester Vera und ihrer jungen Familie?
Je konkreter ich versuchte, mir das vorzustellen, desto unwahrscheinlicher kam mir die Geschichte vor. Ich rief beim Amsterdamer Gemeindearchiv an, mit der Bitte, die Geburtsregister des Wilhelmina-Hospitals einsehen zu dürfen. Darin, so wurde mir versichert, wurden auch die Totgeburten verzeichnet.
Ich ackerte den ganzen Jahrgang 1916 durch, stieß aber auf keinen Willem, keine Mutter namens Annetje Beets.
Dann musste Annetje anderswo niedergekommen sein. Aber woher dann dieser Geburtsschein vom Wilhelmina-Hospital?
Ich war schon drauf und dran, meine eigene Fantasie auf die Willem-Episode loszulassen, als ich eine Eingebung hatte. Die Personalakten des Krankenhauses mussten noch irgendwo existieren. Auf ein Neues zum Gemeindearchiv.
»Meine Großmutter war da zwei Jahre lang in der Ausbildung und hat 1916 ihr
Ooievaartje
gemacht«, sagte ich zu dem freundlichen Archivar. »Ist da vielleicht noch etwas drüber zu finden?«
»Die Akten des Hospitals befinden sich in der Tat bei uns, aber das Archiv ist noch nicht katalogisiert«, berichtete er. »Es kann Monate dauern, bevor die Sachen zur Verfügung stehen.«
Auch die Fotos aus Annetjes ersten Schwesternjahren verschafften mir wenig Klarheit. Sie stammten allesamt erst aus der zweiten Jahreshälfte 1916, nach Annetjes Examen, als sie noch ein paar Monate im Dienst geblieben war. Sie saß blass und mager zwischen ihren Kolleginnen. Dann war da noch das Familienbild, das bis zum Schluss auf ihrem Sekretär gestanden hatte: Die neun Kinder sind nebeneinander der Größe nach aufgestellt, hinter dem Jubiläum feiernden Elternpaar Beets.
Oktober 1916.
›Willem‹ war da schon ein halbes Jahr tot. In Anbetracht der Umstände sah Annetje bemerkenswert gut aus. Ihr Gesicht war wieder etwas runder und zeigte keine Spur von Kummer, keinerlei Anzeichen von jüngst durchlebter Trauer.
Hinten im Album, zwischen Szenen aus den zwanziger und dreißiger Jahren, fand ich noch einen Schnappschuss ohne Datum, der auch aus dieser frühen Periode stammen musste. Ein Sommer in Arnheim. Annetjes Schwester Vera thront hinter ihrem Teeservice, ihr Gatte Jacob Vlek steht hinter ihr mit ihrem ältesten Sohn Jan; der kleine Rob steht im Vordergrundaufrecht im Laufstall, die Händchen fest um die Gitterstäbe geklammert; Annetje liegt schmachtend in einem Lehnstuhl.
Ich überprüfte in meiner chronologischen Übersicht Robs Geburtsjahr: 13. Juni 1914. Auf diesem Foto war er höchstens ein Jahr alt. Dann muss das also der Sommer 1915 gewesen sein. Piet, der Jüngste von Veras drei Söhnen, war also schon unterwegs;
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