Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Schwester, wie oft am Tage die Ärmel für unsere Arbeit hochgekrempelt werden müssen, von den stets verlegten Manschetten ganz zu schweigen! Und dann der Kragen! Was für eine Hitze im Sommer, und was für eine Behinderung, wenn man unter Kopfschmerzen leidet! Und sind sich denn nicht alle Hals-Kapazitäten darin einig, dass ein Kragen des Teufels sei?
Im
Monatsblatt für Krankenpflege
findet man eine anschauliche Schilderung der Umstände, unter denen Annetje lebte und arbeitete, Zwölfstundentage, die dann im Jahr 1912 auf zehn reduziert wurden. Selbst von Annetjes Nachtdiensten – an ihrem kleinen Tisch mit speziell entworfener Schirmlampe – wird ein nahezu euphorisches Bild gezeichnet:
Eine Nachtschwester erblicke nie das Tageslicht … keine Auffassung ist weiter von der Wahrheit entfernt als diese. Just im Gegenteil erblickt sie das Schönste und Herrlichste davon! Sie gewahrt die Natur in ihrem Morgengewande und atmet die reine Morgenluft ein. Die Vögel jubilieren ihre Gesänge zu Ehren der auferstandenen Tagesfürstin … In solchen Augenblicken kann uns so friedlich zumute sein (…) Wir vergessen, dass wir vielleicht erst wenige Stunden zuvor geklagt haben über das Ermüdende und Eintönige der Nachtpflege. Gewiss würden wir immer in einer solchen Stimmung bleiben wollen. Doch ach! Die Verzauberung währt nicht lange. Schon sehr bald wird sie gebrochen durch den prosaischen Lärm des erwachenden Alltages. Wecker klingeln – Milchwagen und Brotkarren rattern über das Straßenpflaster – der normale Trott des Tages nimmt seinen Anfang.
Auf dem letzten Schnappschuss aus der Utrechter Zeit, der die Unterschrift
Auf der Veranda
trägt, sitzt sie mitten zwischen ihren Kolleginnen, in Uniform, komplett mit drückendem Kragen und Manschetten. Sie ist sichtlich schlanker geworden, und ihre Miene ist ruhig und glücklich.
Am 8. Januar 1914 wird ihr das Diplom für Allgemeine Krankenpflege überreicht. Unter ihren Reliquien befinden sich die Glückwunschtelegramme ihrer Eltern und ihres Lieblingsbruders Han. Die Kunde ihrer Diplomierung dringt sogar bis zum
Purmerend’schen Courant
durch. Am 22. Januar 1914 erhält sie ein Schreiben des örtlichen Krankenhauses:
Wertes Fräulein, da wir im
Courant
gelesen haben, dass Sie nun diplomiert sind, möchten die Damen Regentinnen des Hospitals in Purmerend Ihnen den Vorschlag machen, zeitweilig Dienst als Pflegerin zu verrichten. Es ist ein sehr einfacher Arbeitskreis, da wir im Augenblick nur eine Kranke haben, die Entlohnung beträgt
f
250 pro Jahr, freie Kost und Logis, kostenloses Waschen und kostenlose medizinische Behandlung.
Trotz der nahezu idealen Arbeitsbedingungen nimmt Annetje die Stelle nicht an. Sie bewirbt sich beim Amsterdamer Wilhelmina-Hospital und will sich als Wochenpflegerin ausbilden lassen.
Das beste Krankenhaus der Niederlande geht keine Risiken ein. Von den Kandidatinnen wird nicht nur eine gute Grundausbildung verlangt, sondern auch Kultiviertheit sowie fundamentale Qualitäten des Pflegefachs, als da sind Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Disziplin, sorgfältige Beobachtung und Versorgung des Patienten.
Man zieht Erkundigungen in Utrecht ein. Die Direktorin erhält eine kurze Empfehlung:
Schwester A. Beets hat sich zu allen Zeiten als eine sanfte, freundliche, eifrige Pflegerin hervorgetan, eine Person, mit der es nie Schwierigkeiten gegeben hat. Sie ist jemand, den ich Ihnen als gewöhnliche Krankenschwester getrost empfehlen kann, zur Oberschwester, oder um selbst die Leitung zu übernehmen, fehlt ihr freilich die nötige Eignung. Sie verlässt die Einrichtung nach Erwerb des Diploms.
Annetje wird angenommen.
Das Wilhelmina-Hospital
Das Schwesternhaus des Wilhelmina-Hospitals an der Eerste Helmersstraat – zwischen der Wohnung des Ärztlichen Direktors und des Anatomiegebäudes – wurde 1906 seiner Bestimmung übergeben und war somit bei Annetjes Eintritt, Anfang 1914, noch ziemlich neu. Das
Monatsblatt für Krankenpflege
aus jenem Jahr widmete dem einen Artikel, komplett mit Grundrissen von allen Etagen.
Beim Entwurf des Gebäudes war man darauf bedacht, einen schönen, geräumigen Gesprächsraum zu schaffen, wo die Schwestern Gelegenheit finden sollen, sich zu entspannen. Es ist ein anheimelnder, heller Raum, dessen drei Flügeltüren zu der Grünanlage führen, die das Schwesternhaus umgibt …
Die um zwei Säulen platzierten Bänke locken zusammen mit den
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