Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Februar 1916. Da hat meine Großmutter ein Kind bekommen. Da
muss
doch was drüber zu finden sein?«
Der Archivar nahm mir das Dokument aus der Hand. »Aber das ist ja was ganz Konkretes«, sagte er. »Damit kann ich schon etwas anfangen. Ich seh mal nach.«
Ich wartete im Lesesaal, wo muntere Senioren auf Computern herumtippten und in Karteikästen nach Familienangaben suchten.
Er kam viel zu schnell wieder. Ich sah es schon: mit leeren Händen.
»Die Sachen stehen da meterweise«, sagte er. »Aber immerhin schon nach Jahren geordnet. Kommen Sie doch mit, dann sehen wir mal, ob wir was finden können.« Er schleuste mich durch Gänge, eine Treppe hinunter. Dann öffnete er die schweren Türen der Katakomben unter dem Gebäude. Es war dort kühl und totenstill. Riesige Kästen standen in Reih und Glied. Ich sog den Geruch des alten Papiers ein.
Zwischen zwei verschiebbaren, hohen Regalen war eine Öffnung. Dort standen die Personalakten des Wilhelmina-Hospitals – in der Tat: meterweise Ordner und Mappen, mit uralten Kordeln verschnürt.
»In welchem Jahr ist Ihre Großmutter dort eingetreten? Die sind nach dem Datum des Dienstantritts geordnet.«
»Januar 1914.«
Er fand die Schachtel auf Anhieb, und der Umschlag befand sich genau dort, wo er sich befinden musste: unter B.
Annetje Beets, 1914 – 1916.
An der Innenseite des Umschlags steckte ein kleines Foto von Annetje, in Uniform.
Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.
»Das erlebe ich öfter«, sagte der Archivar beruhigend. »Es kommen Leute zu mir, die ihre Familie im Krieg verloren haben und hier dann plötzlich ein Foto finden.«
Vorsichtig öffneten wir die Mappe. Sie enthielt Briefe – ein Bewerbungsformular – Zeugnisse – und ein paar Urlaubsgesuche und Krankmeldungen.
»Sehen Sie sich die Sachen in aller Ruhe an«, sagte der Archivar. »Sie können Sie mit rauf in den Lesesaal nehmen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Fragen haben. Und was Sie brauchen, können Sie später kopieren lassen.«
Ich nahm wieder in dem brütend heißen Lesesaal Platz. Ich holte tief Luft. Mit zitternden Fingern leerte ich den Umschlag.
Ein Stapel Zeugnisse. Annetjes Noten reichten von ›ja‹ für
Gehorsam, Ordnung, Zuverlässigkeit, Geschick
und
Gemütsruhe
, bis ›gut‹ für
allgemeines Verhalten, Pflegekenntnisse, Charakter
und
Kultiviertheit.
Die Papiere trugen die Unterschrift einer gewissen ›Schwester De Liefde‹. Auf eines von ihnen hatte Schwester De Liefde den Randvermerk gesetzt:
Die Schwester ist nicht stark.
Schwester De Liefde hatte guten Grund für ihre Bemerkung. Ich studierte die Formulare, auf denen Annetjes Krankentage aufgelistet waren. Waren es 1914 nur drei gewesen, so waren es 1915 einundachtzig. Dazu waren auch noch die genauen Daten und besondere Umstände vermerkt.
Ich suchte das Jahr 1916. Wie ich sah, hatte Annetje ihre Ausbildung im Januar wieder aufgenommen, im März 1916 hatte sie ihr Schwesternabzeichen, ihr
Ooievaartje
, erworben. Im Juni wurde sie ehrenvoll entlassen.
»Keine«, stand in diesem Jahr bei den Krankmeldungen.
Wie war das möglich? 1916 kein einziges Mal krank gemeldet? Dann konnte Annetje nicht am 17. Februar niedergekommen sein.
Perplex saß ich an meinem kleinen Tisch. Ich sah meine ganze Geschichte wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Es war nicht wahr, ich hatte mir etwas eingebildet. Es hatte kein Kind von Piet Oud gegeben.
Als der Archivar an meinem Tisch vorbeikam, war ich so in Gedanken versunken, dass ich ihn nicht einmal kommen sah.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, flüsterte er, um die anderen Besucher nicht zu stören.
»Da stimmt was nicht«, sagte ich. »Die Daten stimmen nicht.«
Ich zeigte ihm den Brief aus der Personalakte, in dem Annetje ihre Direktorin darum bat, nach einem Krankenurlaub von sieben Monaten, im Januar ihre Arbeit im Krankenhaus wieder aufnehmen zu können.
Ich zeigte auf das Datum: 23. Dezember 1915. »Sie kann daher unmöglich im Februar 1916 einen Willem zur Welt gebracht haben.«
Doch dem fachkundigen Auge des Archivars fiel etwas Merkwürdiges auf.
»Das ist dieselbe Handschrift.« Er legte den Geburtsschein neben den Brief. »Sehen Sie mal, das l, das t. Sie muss dieses Formular selber ausgefüllt haben.«
Ich sah ihn sprachlos an.
»Und der Name, hinter ›der Vater‹?«
»Das ist eine andere Handschrift. Ich lese da die Buchstaben H. C. heraus, aber weiter?«
Der Familienname war ein unlesbarer Strich.
»Wollen
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