Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
bekam, ergaben folgendes Bild:
Piet Oud war eine markante Erscheinung, nicht groß, aber wohlproportioniert. Er sah seinem Vater ähnlich, war aber weniger stämmig, war feinsinniger, ernster. Er rauchte. Er war religiös. Er war gewissenhaft, integer, sorgfältig. Er hätte nie leichtfertig gehandelt. Wenn er sich einen Seitensprung geleistet hatte, dann dürfte er das bis zu seinem Lebensende bereut haben.
Ich fand ein Interview aus dem Jahr 1963, anlässlich seines Abschieds aus der Politik. Wie üblich wischte er darin jede persönliche Frage vom Tisch und die Interviewerin fühlte sich dadurch ziemlich grob behandelt. Aber dann gelang es ihr, ihm im letzten Moment ein sehr bezeichnendes Zitat zu entlocken, von dem er sagte, es habe ihn immer sehr berührt:
Erscheinen Deine Wege dunkel, Sieh, so frag ich nicht: Warum?
Ein befreundeter Kirchenbesucher konnte es für mich ausfindig machen. Es stammt aus dem Lied 293 des Gesangbuchs. Die zweite und dritte Strophe lauten:
Herr, will Deine Liebe loben
Begreift Dich meine Seel’ auch nicht.
Selig, der da wagt zu glauben,
Auch wenn’s dem Aug’ an Blick gebricht.
Erscheinen Deine Wege dunkel,
Sieh, so frag ich nicht: Warum?
Seh’n werd’ ich Deinen Glanz, Dein Funkeln
Wenn ich in Deinen Himmel komm.
Lass mich nicht mein Los besiegeln
Ich wagt’ es nicht, es wär’ mir eine Qual.
Ach, wie würde ich’s verfehlen
Ließest Du mir freie Wahl!
Will ich doch ein Kind Dir sein
Das den Weg allein nicht weiß
Nimm meine Hand in Hände Dein
Und führe mich nach Dei’m Geheiß.
Ließest Du mir freie Wahl! …
Es fiel mir schwer, hier keine Schlussfolgerungen zu ziehen. Piet Oud hatte vor mindestens
einer
schweren Wahl gestanden. Einer Wahl, vielleicht, zwischen zwei Frauen?
In der Fotomappe blätternd sah ich Piet Oud als Jungen, als jungen Mann. Ich sah ihn altern, alt, krank. Immer sah ich etwas Trauriges in diesem Gesicht. Das letzte Foto stammte aus dem Jahr 1968, seinem Todesjahr. Das Gesicht ist kreideweiß, überbelichtet. In diesem todbleichen Gesicht, die Augen. Ihr Blick wild und wütend.
An einem heißen Sommernachmittag kramte ich wieder einmal in Oma Annetjes Papieren. Die Jahre des Ersten Weltkriegs; Oma Annetjes Phantomkind; welche Geschichte steckte nun hinter ›Willem‹? Zum zigsten Mal dachte ich an das Gemeindearchiv. Ich hatte erst kürzlich wieder dort angerufen. Nichts, noch immer nichts. Ich griff zum Telefon. Die Mitarbeiterin wollte sich bei der Abteilung Dokumentation erkundigen. Es dauerte lang. Es dauerte ewig. Die Verbindung wurde unterbrochen.
Ich saß da, den Kopf in den Händen. Ich schloss die Augen – vor Müdigkeit, Verdruss, Ohnmacht darüber, dass ich keine Ordnung bekam. Ich musste ganz kurz eingenickt sein. Ich schreckte auf, den Kopf auf den Armen. Dieser Kopf war jetzt wach, auf einmal, und klar. Ich war in meinem ›gesegneten Zustand‹. Ich musste zum Archiv,
jetzt
. Ich musste den freundlichen Archivar sprechen.
Die Stadt war träge, die Hitze drückend, während ich an der Amstel entlangradelte, zum ehemaligen Rathaus, wo dasArchiv jetzt untergebracht war. Ich deponierte meine Tasche in einem Schließfach und meldete mich am Schalter des Lesesaals, den ›Geburtsschein‹ in der Hand.
»Er ist heute auf einem Lehrgang«, lautete die entmutigende Mitteilung.
Ich stand unentschlossen da. Umkehren, in der Hitze, unverrichteter Dinge? Erst mal kurz verschnaufen, dachte ich. Vielleicht fiel mir ja etwas ein, wonach ich, da ich schon mal hier war, ebenso gut suchen konnte. Ich ging draußen auf den Stufen eine Zigarette rauchen und starrte auf die Amstel, ohne irgendwas zu sehen. Mein Kopf war leer. Wonach sollte ich noch suchen? Nach Piet Ouds Aufenthaltsort in Amsterdam, in den Jahren des Ersten Weltkrieges, hatte ich mich schon mal erkundigt. Er sei nicht in Amsterdam gemeldet gewesen, lautete das Ergebnis. Er konnte in der Kaserne gewohnt haben oder in Zimmern logiert, an einer nicht mehr aufspürbaren Adresse.
Ich drückte meine Zigarette aus und sammelte Mut für die Rückfahrt nach Hause. Nachdem ich meine Sachen aus dem Schließfach geholt hatte, stand ich plötzlich dem Archivar gegenüber, der gerade von seinem Lehrgang zurückkam.
»Leider, leider sind sie mit dem Archiv des Krankenhauses noch nicht so weit«, sagte er bedauernd.
Aber jetzt war ich fest entschlossen. »Ich suche doch nur
ein
Datum. Ich muss nur
eine
Sache wissen.« Ich zeigte ihm den Geburtsschein. »17.
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