Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Familienalben auftauchen werden. Auf allen steht sie stolz und aufrecht, willensstark und unverzagt, in ihrem neuen Mantel und einem exquisiten Kopfschmuck, der mit einer Schleife um ihr Kinn geknüpft ist.
Bruder Han, ebenso wie sein Vater im Transport beschäftigt, bringt seine Schwester mit dem Lieferwagen bis vor die Tore des neuen Schwesternhauses in Utrecht, wo Annetjes neues Leben beginnen wird.
Für meine Geschichte war die Episode in Utrecht nicht so wesentlich, doch ein Gedenkbuch mit dem Titel
Einiges aus der Geschichte der Kliniken für Heilkunde und Geburtshilfe der Reichs-Universität Utrecht mit einer Beschreibung der neuen Einrichtung
lieferte einen Schatz von Einzelheiten, die eigentlich zu schön waren, um sie nicht zu gebrauchen. Dutzende messerscharfe Fotos zeigen die jungfräulichen Räume, in denen Annetje damals herumgegangen ist. Den Krankensaal, noch unbelegt; die weißen und gelben Fliesen, mit denen die Korridore und Krankensäle ausgelegt sind; den Waschsaal, die Laboratorien, die Vorlesungssäle, wo die Krankenschwestern ihren theoretischen Unterricht erhalten. Sogar ein Schwesternzimmer, wie Annetje eines bewohnt haben muss: Bett, Tisch, Wasserkanne, Stuhl, Nachttisch, Frisierkommode.
»Zu klein«, räumt der Verfasser ein, »als Folge unseres Bestrebens, jeder Schwester ihr eigenes Zimmer zu geben und ihr, vermittels einer beträchtlichen Anzahl Schwestern, die Arbeit nicht zu mühsam werden zu lassen und zugleich für eine Pflege höchstmöglicher Güte Sorge zu tragen.« Die Zimmersind mit Zentralheizung und elektrischem Licht ausgestattet, verfügen allerdings nicht über fließendes Wasser, da man befürchtet, die Wasserleitungen könnten einfrieren. Auch hatte man Angst, »dass die zahlreichen Abflussrohre aus den Waschbecken durch Verstopfung große Probleme verursachen könnten«.
Die sanitären Einrichtungen waren also in mancher Hinsicht eher typisch für das neunzehnte Jahrhundert als für das zwanzigste. Dem gegenüber stand, dass die Schwestern sich in ihrer Freizeit in »einem stattlichen Ess- und einem großen Wohnzimmer mit Balkon« aufhalten konnten. Es gab einen Konversationsraum mit Veranda, von der man einen Blick hatte »auf den schönen Garten« und »die vorbeischnellenden Eisenbahnzüge«.
Nicht nur die sanitären Einrichtungen ließen zu wünschen übrig – man schaudert, wenn man an die Kälte denkt, der Annetje getrotzt haben muss. Der Verfasser äußert die Befürchtung, dass »Schwestern und Kranke über die Kälte eines Steinfußbodens klagen werden. Durch die Benutzung von Pantoffeln mit Sohlen aus Filz oder Stroh oder Seilwerk hoffen wir freilich, dass dem entgegengewirkt werden kann.«
Ganz zu schweigen von der ewigen Zugluft in den schwellenlosen Fluren, die »rundum auf die bequeme Beförderung mit Rollbahren oder fahrbaren Betten eingerichtet« sein mussten. »Dieser natürlichen, doch ungewünschten Lüftung kann wohl nicht anders Abhilfe geschaffen werden als durch Dichtungspolster und derartige Hilfsmittel …«
Andererseits gab es allerlei technische Glanzstücke, die das Leben der Schwestern annehmlicher machen sollten. Wie etwa der »Elektromagnet«, mit dem das Badewasser automatisch auf einer Temperatur zwischen 34 und 40 Grad gehalten werden sollte; die Kartoffelschälmaschine in der Nebenküche, angetrieben durch einen Elektromotor; der große Gasherd; der Apparat, »in welchem das benutzte Geschirrmaschinell durch kochende Seifenlauge gereinigt wird«; und der Keller mit »Dampf- und Kondensleitungen« für die Zentralheizung, die Warmwassereinrichtung, die zahlreichen Sterilisatoren, die beheizten Schränke für Wäsche in den Krankensälen, für die Dampfkochkessel und Wärmeschränke in den Teeküchen, für den Küchenbetrieb und die Tellerwäsche.
In Annetjes Album findet sich auch noch einiges Fotomaterial aus dieser Zeit. Ein Gruppenfoto mit Kolleginnen. Ein paar winzige Schnappschüsse, auf denen mit dem bloßen Auge nur weiße Betten und emsige Gestalten zu sehen sind. Ein Scanner aber zaubert haarscharfe Dias auf den Computerschirm – Einblicke ins Jahr 1911. So ist dort ein Patient zu sehen, den Kopf in einem dicken Verband; ein Arzt in einem weißen Kittel; und vor einem der Betten die Schwester Annetje, in Uniform, mit steifen weißen Manschetten und einem gestärkten Kragen.
Kragen und Uniform sind in der
Zeitschrift für Krankenpflege
von 1913 Gegenstand hitziger Diskussionen:
Weiß doch jede
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